Ausgabe

GRAFIKDESIGN

No. 38 | 2020/3

«Obacht Kultur» N° 38, 2020/3 setzt dem Grafikdesign ein Zeichen.

Auftritt: Willi Kunz;
Bildbogen: H.R. Fricker;
Umschlag: Wassili Widmer;
Texte: Judith Keller, Angela Kuratli, Dana Grigorcea u.v.m.

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Frischluft

Schau, da ist vielleicht ein netter Stein.

von Judith Keller

Vor einem Monat hatte ich die Gelegenheit, einen Forscher und eine Fotografin auf einer Reise nach Griechenland zu begleiten. Wir suchten dort nach den ehemaligen Stätten des Musenkultes. An den jeweiligen Orten fiel mir auf, dass ich die Überreste der Antike so gut wie nicht «lesen» konnte. Umso mehr hat mich die mündliche Beschreibung der Stätten interessiert, die Sätze, mit denen sie der Forscher vor Ort beschrieb, und die Dialoge zwischen ihm und der Fotografin,
die sich darum drehten, wie man diese Stätten, von denen meist nur noch einzelne Steine oder Höhlen zeugten, am besten aufs Bild bringen könnte. Ich protokollierte die gesprochenen Sätze vor Ort, um zu erfahren, welche räumliche Wirkung im Gegensatz zur Fotografie die mündlich geäusserten Beschreibungen in Anbetracht der abwesenden Landschaft wohl entfachen würden. Im Folgenden ein Einblick in meinen Versuch. Das da hinten ist das Musental. Hier ist der Eingang, das ist das Steinheiligtum aus Hesiods Zeit, die Eupheme, die Amme der Musen. Warum reisst du die Grasbüschel aus? Damit man die Rinne sieht. Also hier oben, da überall haben die berühmten Künstler der Antike ihre Skulpturen ausgestellt. Circa
drittes Jahrhundert vor Christus bis drittes Jahrhundert nach Christus. Da, wo die Delle ist, da war das Theater. Ein, zwei Sitzreihen mit Mauer und wo es abfällt, Steine. Da haben die Dichterfestspiele stattgefunden mit Aulos und Gitarren und da unten war die Säulenhalle, das muss ein irrsinniges Bild gewesen sein. Und hier war der Musenaltar, hier gehst rein, hinten hast du wie eine Lehne und da hat man Feuer gemacht und seine Blüten, Kuchen und so weiter verbrannt und
rundherum siehst du ja, was da alles zum Vorschein kommt, da waren die ganzen Statuen! Nein, geh nicht weg, Sonne! Schau, da ist vielleicht ein netter Stein. Da ist eine Figur gestanden, welche, weiss der Geier. Aber die Fussabdrücke siehst du. Super, dann mach das, das ist doch schön mit den Fussabdrücken. Wie bring ich die Quelle und die Bäume aufs Bild? Oh die Sonne. Geh weg, du machst Schatten! Die Musenstatuen standen zwischen hier und den Bäumen da drüben. Ich muss die zweite Säulenhalle fotografieren! Zehn vor fünf ist die Sonne aber weg hier. Was hast du bis jetzt? Knie, Ferse von Apollon und solches Zeug. Kannst du deinen Fuss einziehen, bitte? Wart wart wart das ist eben auch schön so rum. Die Fotografin geht in der zweiten Säulenhalle herum durch schmatzendes, hohes Gras. Ich sitze auf einem Stein und sehe ausgeblichene Halme, Stachelgewächs und Olivenbäume, soweit das Auge reicht. Vergeblich versuche ich, mir die bemalten Statuen im Gras vorzustellen, die zweite Säulenhalle, die Musik und die Gespräche. Meine Augen kommen mir immer wieder dazwischen. Wie von selbst senkt sich mein Blick. Dort, am Boden, sind die Mitglieder einer Hochkultur gerade jetzt am Werk. Es sind die Ameisen.

Judith Keller, geboren 1985 in Lachen SZ, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschienen 2015 «Wo ist das letzte Haus?» und 2017 «Die Fragwürdigen».

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