Ausgabe

KUNST UND BAU

No. 41 | 2021/3

«Obacht Kultur» N° 41, 2021/3 erforscht Kunst und Bau.

Auftritt: Anna Diehl;
Bildbogen: Thomas Stricker und Ueli Frischknecht;
Umschlag: Markus Müller;
Texte: Jessica Jurassica, Tanja Scartazzini, Maria Nänny u.v.m.

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Fensterblick

Wieder mehr Gesamtkunstwerk, Bitte!

von Maria Nänny

Wenn ich auf einem Streifzug durchs Appenzellerland an der gestemmten Holzfassade eines Kreuzfirsthauses hochblicke, sehe ich ein Kunstwerk: die Vertäferung, die wohlproportionierten Fenster, die Zierelemente. Betrete ich das Haus und sehe ich eine gut erhaltene Strickwand, in der Stube einen dunkelgrünen Kachelofen und einen Einbauschrank aus Nussbaum, verstärkt sich dieser Eindruck. Ich sehe darin das grundsätzliche Bedürfnis der Menschen, die Räume, die sie bewohnen, nach ihrem Gefallen zu gestalten, auch wenn die Verhältnisse einst vielleicht bescheiden waren. Betrachte ich die Gebäudegruppe «La Tête» der Universität St. Gallen aus den 1960er-Jahren von Walter Maria Förderer, sehe ich ebenso ein Gesamtkunstwerk. Von aussen wie von innen nehme ich die Gebäude und Räume als skulpturales Werk wahr. Förderer war Architekt, Bildhauer und Grafiker, sicherlich eine geeignete Voraussetzung, das architektonische Werk ganzheitlich zu denken. Er hat in der Planung der Gebäude zudem Kunstschaffende miteinbezogen, die für den spezifischen Ort Reliefs, Skulpturen, Textilkunstwerke und Gemälde schufen. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts war beim Gestalten von Gebäuden und Räumen das Zusammenspiel von Baukunst und bildender Kunst selbstverständlich. Und heute? Spricht man heute von Kunst und Bau, ist gemeinhin eine künstlerische Intervention an oder in einem öffentlichen Gebäude gemeint. Diese Interventionen geschehen nicht selten im Nachhinein, wenn die Wände leer oder die Eingänge etwas kahl sind. Sie geschehen auch losgelöst vom eigentlichen Planungsprozess. Ich beobachte, dass bei einer Sanierung, einem Umbau, einer Erweiterung oder einem Neubau von öffentlichen Gebäuden der Aspekt der Kunst, beziehungsweise des Kunsthandwerks, untergeht. Obwohl in einigen Kantonen, Städten und Gemeinden Verordnungen vorgeben, dass ein Prozentteil der Bausumme in Kunst-und-Bau-Projekte fliessen soll. Um auf die Appenzeller Häuser zurückzukommen: Diese hatten keine Architektinnen oder Architekten, sind aber Prototypen für gute Architektur. Diesbezüglich ist in meinen Augen gelungene Architektur eine Kunst. Noch höher gewichte ich Architektur, wenn sie den Aspekt des Gesamtkunstwerks erfüllt. Bedingung dafür ist nicht, dass wie bei der Universität St. Gallen der Architekt auch bildender Künstler ist. Ein Bau als Gesamtkunstwerk fusst darin, dass die Disziplinen Architektur, Kunsthandwerk und bildende Kunst daran beteiligt sind. Ich wünsche mir, dass es eine Selbstverständlichkeit wird, in den Bausummen öffentlicher Gebäude für Kunst und Bau ein Prozent einzuberechnen. Ich erhoffe mir, dass Kunstschaffende früh in die Prozesse einbezogen werden, dass sie bei der Materialisierung, der Farbwahl, der Ausgestaltung der Räume involviert sind. Das wird Diskussionen geben, aber wir leben ja in einer Demokratie, in der wir uns ständig im Ausloten der Möglichkeiten befinden.

Maria Nänny, geboren 1973, lebt in Bühler, ist Primarlehrerin, Germanistin und Kunsthistorikerin. Sie ist Dozentin für wissenschaftliches Schreiben und leitet die Fachstelle Kunst und Kultur der OST – Ostschweizer Fachhochschule. 2020 erschien die von ihr herausgegebene Publikation «Kunst und Bau. Der Neubau der FHS St. Gallen und die Kunst» bei Park Books, Zürich.

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