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KURATIEREN

No. 44 | 2022/3

«Obacht Kultur» N° 44, 2022/3 widmet sich dem Kuratieren.

Auftritt: Ollie Schaich;
Umschlag: Jana Zürcher;
Bildbogen: GAFFA;
Texte: Patti Basler, Johannes Stieger, Isabelle Chappuis u.v.m.

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Die Fülle hüllen

von Johannes Stieger

In den Nullerjahren hatte die Kulturpolitik des Kantons St. Gallen die Tendenz, erst die Immobilie auszusuchen und sich im zweiten Schritt die konkrete Nutzung dafür zu überlegen. «Hüllen füllen» betitelten wir damals bei der Redaktion des Kulturmagazins «Saiten» dieses Vorgehen. Eine ähnliche Herangehensweise beobachte ich oft auch bei Ausstellungen zu historischen, gesellschafts- und kulturpolitischen Themen: Hin und wieder wird uns Szenografinnen und Ausstellungsgestaltern, bevor überhaupt die Inhalte und Kernaussagen definiert sind, die Frage gestellt, wie denn die Ausstellung am Schluss aussähe. Das erhöht den Stellenwert der Szenografie enorm, und grundsätzlich ist es ja zu begrüssen, dass einer umsichtigen Gestaltung eine grosse Bedeutung eingeräumt wird. Nur: Da eine Ausstellungsvorbereitung meist ein komplexer Ablauf mit zahlreichen Akteurinnen und Ansprüchen ist, besteht durch zu frühes Designen die Gefahr, dass die inhaltliche Klarheit und Lesbarkeit verloren geht, da später im Prozess zu viele Kompromisse eingegangen werden müssen. Bevor ich mich auf die Ausstellungsgestaltung spezialisiert habe, studierte ich Industrial Design. Wir lernten, konzeptionell an eine Aufgabe heranzugehen und viel Zeit für Beobachtungen und Recherchen aufzuwenden. Damals machte der Soziologe Lucius Burckhardt mit seinem Aufsatz «Design ist unsichtbar» einen nachhaltigen Eindruck auf mich, weil er politisch angetrieben und pointiert formuliert mehr als nur gute Formen anmahnt. Verkürzt fordert sein Text von Planerinnen ein, dass sie sich mit den unsichtbaren gesellschaftlichen Zusammenhängen befassen, bevor sie über konstruktiven Details, Radien, Farbtönen usw. brüten: Was bringt zum Beispiel eine wandelbare und somit umweltschonende Ausstellungsarchitektur, wenn der Kurator keine Ressourcen hat, die Ausstellung laufend anzupassen und sie zu verändern? Was nützt ein in seine Einzelteile zerlegbares und wieder verwendbares Ausstellungsmobiliar, wenn es dann doch entsorgt wird, weil die Museumstechnikerin aufgrund von Platz- und Geldmangel keinen Aufbewahrungsort zur Verfügung stellen kann? In einer Ausstellung treffen neben diesen unsichtbaren Faktoren auch handfeste Ansprüche aufeinander: Menschen mit körperlichen Behinderungen nicht auszuschliessen, Objekte vor klimatischen und menschlichen Einflüssen zu schützen, die digitalen Möglichkeiten auszuschöpfen, Partizipation zu ermöglichen, die Eintrittszahlen zu steigern, Energie zu sparen, intellektuellen Inhalt konsumier- und vermittelbar darzustellen und den Museumsbesuch möglichst interaktiv zu gestalten. Oftmals laufen all diese Ansprüche und noch viele mehr bei den Szenografinnen zusammen. Die Artefakte und Themen einer Ausstellung müssen unter diesen Prämissen visuell anmächelig mit der bestehenden Architektur des Ausstellungsraumes zusammengebracht werden. Um den Bogen zu schliessen: Die Kunst der Szenografie liegt also darin, die Fülle zu hüllen! Und bestenfalls wird diese Fülle im anfangs noch leeren Raum ausgetüftelt – ganz ohne gestalterische Einschränkungen und mentale Handbremsen.

Johannes Stieger, geboren 1979, ist Szenograf und führt ein eigenes Büro in St. Gallen. Immer wieder untersucht, konzipiert und gestaltet er Situationen auch für den öffentlichen und halböffentlichen Raum in Appenzell Ausserrhoden.

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