Ausgabe

KURATIEREN

No. 44 | 2022/3

«Obacht Kultur» N° 44, 2022/3 widmet sich dem Kuratieren.

Auftritt: Ollie Schaich;
Umschlag: Jana Zürcher;
Bildbogen: GAFFA;
Texte: Patti Basler, Johannes Stieger, Isabelle Chappuis u.v.m.

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Thema

Kuratorinnen sind Konditoren

von Roland Scotti

Gibt man das Wort «Kurator» in Google ein, erhält man knapp 14 Millionen Ergebnisse. «Konditor» bringt 6 Millionen Resultate. Diese Recherche ist ungefähr so sinnvoll wie die Verwendung des Wortes «kuratieren» im Kunstbereich. Ist der überbordende Wortgebrauch ein grosses, nicht zuletzt linguistisches Missverständnis oder eine anmassende und bereits karikierende Überhöhung eines Berufs, besser, eines Berufsbildes? Nach knapp vierzig Jahren in genau diesem Beruf kann ich das halb ironisch, halb ernst schreiben – möglicherweise habe ich aufgrund des Alters oder des relativ traditionellen Werdegangs eine innere Distanz zum Wort «Kurator». Eine Bibliografie zum Thema «Museales Kuratieren / Curating» würde heute Tausende von Publikationen umfassen – fast so unübersichtlich wie jene zu Koch- oder Backbüchern. Jeden Tag werden mehr Berufe, die im weiten Feld des Kuratierens angesiedelt sind, beschrieben: Chefkuratorin, Assistenzkurator, Künstlerkuratorin, Kuratorkünstler, Hobbykuratorin, Ausstellungsmacher, Schaufensterkurator, Filmkuratorin – auch Restaurantkurator. Insgesamt Professionen, die folgerichtig auch verschiedene Ausbildungen voraussetzen – oder, wenn denn noch ein Quäntchen Obsession hinzukommt, keine: Frau/Mann hat das Händchen und den Geistesblitz oder hat diese eben nicht. In meiner Generation, die wir damals wie selbstverständlich von einer Punk-Haltung geprägt waren, gab es ein Credo: «Just do it together, do not speak about it.» Was nicht bedeutete, dass wir, die Macherinnen und Jongleure, vollkommen unreflektiert improvisierten; oft wussten wir relativ genau, was wir transportieren wollten: Härte und Gefühl, Rationalität und Emotionalität. Wir waren mühelos Teil eines permanent kreativen Labors, eines menschlichen und in meiner Erinnerung gesamtgesellschaftlichen Wirbels, der in jedem Medium, auf vielen Ebenen Ungewöhnliches UND Banales versuchte. Es gab keine Leitfiguren, schon gar keine Diskurse oder Texte, an die wir uns halten sollten/konnten/wollten. Es fehlen noch die freien, die nebenberuflichen und all die anderen Kuratierenden, die, ja, was nun tun? Ob die Beschreibung des Studienprogramms «Kulturen des Kuratorischen», publiziert von der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, bei der Klärung hilft, möchte ich nicht beurteilen: «Das Kuratorische versteht sich dabei als eine kulturelle Praxis, die über das Ausstellungsmachen selbst deutlich hinausgeht und sich zu einem eigenen Verfahren der Generierung, Vermittlung und Reflexion von Erfahrung und Wissen entwickelt hat. Das Studienprogramm […] vermittelt […] ebenso die theoretischen Mittel zur Analyse, Erörterung und Weiterentwicklung von Ausstellungen und anderen Formen der Kulturvermittlung in einem transdisziplinären und transkulturellen Kontext.» Professionalisierung betraf in meinem Leben vor allem das Administrative, das Organisatorische und das Finanzielle der Institutionen; weniger das legitimierende Blabla, das gymnastischen Übungen für Fettleibige ähnelt. Wenn überhaupt, dann stand eine Frage im Zentrum des Tuns (und Denkens): Wie können wir ästhetische Energie – das ist für mich Kunst – so zeigen, dass sie als potentielles Lebens- und Erkenntnismittel für möglichst viele Menschen erlebbar wird? Irgendwann kommen der Aussenseiter, die Aussenstehende zu dem Schluss, dass die Stellen- und Funktionsbeschreibung «Kuratorin», wenn wir sie ernst nehmen, für Universalmenschen, für eierlegende Wollmilchsäue oder, positiver im Jargon der 1980er-Jahre formuliert, für «geniale Dilettanten» gilt. Die Autorin (und Kuratorin?) Marisa Schiele schreibt in ihrem Internetmagazin «museumswissenschaft.de» 2017 weit pointierter als die oben zitierte Hochschule: «All das ist heute absolut notwendig. Kuratoren müssen vor allem qualifizierte Kommunikatoren sein …». Mit «all das» meint sie – neben der Fähigkeit, Netzwerke zu weben, in deren Zentrum immer «die» Kunst oder Kunstschaffende stünden – eben das: ALLES. Wie das scheitert, haben wir gerade bei der «documenta fifteen» erlebt. Die Kuratoren und Organisatorinnen und all die anderen Verantwortlichen ignorierten vollkommen, dass es reale Orte, reale Historie und reale Geschichten, ja sogar reale Tabus und reales Wissen gibt – die jenseits von Kommunikation, von Umtriebigkeit, vom Netz existieren. Nämlich Dinge und Verhältnisse, mit denen man sich – wie Kunstwerken – konkret und verantwortungsvoll, nicht im Diskurs oder, wie Bazon Brock es nannte, «Schafstallgeblöke» beschäftigen sollte. Ein wirklicher Ort ist für mich Appenzell – nicht das Kunstmuseum und nicht die Kunsthalle, sondern die Kantone Innerrhoden und Ausserrhoden sowie das Dorf Appenzell. Und für diesen Ort mit den dort lebenden Personen habe ich, wenn überhaupt, «kuratiert». Selbst wenn heute viele glauben, dass mit Harald Szeemann, Kasper König und Peter Weibel die Figur des Kurators in den 1960er-/1970er-Jahren im deutschsprachigen Raum erfunden, definiert und mit Leben gefüllt wurde, ist das Wort in der Variante der «freien Kuratorin» erst seit den späten 1980er-, frühen 1990er-Jahren, zeitgleich mit dem vermeintlich globalen Endsieg der «freien Marktwirtschaft» (honi soit qui mal y pense), in den allgemeinen kunstbetrieblichen Sprachgebrauch eingesickert. Im posthumanen Überall kann man kein zukunftsgerichtetes «society building» betreiben. Aber gerade darum geht es im Leben, und auch in der Kunst. Rezepte für das Zusammenleben in Gesellschaften wären etwas anders als Kuchen backen. Womit wir bei den Konditoren wären, jenen Meisterinnen des Vielschichtigen, Verschnörkelten, Verzwirbelten, Verspielten, Verdeckten, jenen Helden der geahnten und ungeahnten (Geschmacks-)Verbindungen. Diese suchten und unterhielten ihr Publikum, den Adel, seit dem 15. Jahrhundert ebenfalls weltweit – alles Zuckerbäckerei?

Nach einem Jahrzehnt als künstlerischer Leiter im Kirchner Museum in Davos ist Roland Scotti 16 Jahre lang Geschäftsführer der Heinrich Gebert Kulturstiftung und damit Kurator im Kunstmuseum Appenzell (ehemals Museum Liner) sowie der Kunsthalle Ziegelhütte. Er hat beide Häuser von der rein monografischen Ausrichtungzu bedeutenden Kunsthäusern mit dem Schwerpunkt internationale Kunst und zu spartenübergreifenden, experimentellen Kulturorten erweitert. Ende November 2022 ist Roland Scotti in Pension gegangen und kann sich seither auch anderen Leidenschaften hingeben, neben Kunst etwa Literatur und Radfahren.

 

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