Ausgabe

BÜHLER?

No. 36 | 2020/1

«Obacht Kultur» N° 36, 2020/1 erkundet ein vielen unbekanntes Dorf mitten im Appenzellerland: Bühler.

Auftritt: Brigit Widmer
Umschlag: Isabel Rohner
Bildbogen: Mark Staff Brandl
Texte: David Signer, Johanna Lier, Lea Sager u.v.m.

Online blättern
Ausgabe bestellen

Frischluft

Ein Dorf ist ein Dorf ist ein Dorf…

von Johanna Lier

würde die umwerfende Getrude Stein schreiben. Denn sie verfasste neben metaphysischen Kriminalgeschichten auch pataphysische Poesie. Und ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas erfand ihr einmaliges «Kochbuch für Getrude Stein». Und schon haben wir, was ein Dorf ausmachen könnte: Heart Crime & Soul Food. Ein Verbrechen in der Enge der Dörfer ist an emotionaler Sprengkraft nicht zu überbieten, weil sich alle kennen. Und ein gemeinschaftlich gedeckter Tisch mit frisch zubereitetem Essen ist geradezu die Emanation dörflicher Geborgenheit. Utopie einer Vergangenheit, die es so nie gab. Doch das Wesen der Sehnsucht ist schmerzliches, jedoch unstillbares Verlangen.

Eine Imagination!

Ich nahm mir vor, ins Dorf Bühler zu fahren, um vielleicht ein Fadenende seiner unzerreissbaren Sehnsucht zu erwischen. Aber da zog eine grosse Gefahr auf. Und ich musste mich unverzüglich in die Schutzzone meines eigenen kleinen Dorfes zurückziehen.

Alphabet meines Dorfes: Andenken. Aschenbecher. BH. Bücher. Computer. Crème. Duvet. Dylan. Essig. Esstisch. Finken. Fotos. Geschirr. Gurke. Handy. Hustensirup. ICH. Illustrierte. Joghurt. Jupe. Kabel. Kopfhörer. Lampe. Lineal. Mehl. Milch. Notizen. Nudeln. Öl. Ordner. Pflanze. Pyjama. Quarze. Quecksilber. Rasierer. Rouleau. Sofa. Stuhl. Tee. Teppich. Unterhemd. Unterhose. Verzeichnis. Vorhänge. Waschmaschine. Wein. X-Haken. Xerophyten. Ysop. Y-Chromosom. Zahnbürste. Zucker. 

Heizungswasser gurgelt mich in ein warmes Bad. Bässe aus dem Nachbarsdorf wummern in meinen Knochen. Autolärm rollt durch meinen Kopf. Eisenbahngeräusche ziehen mich hinaus. Das hinter den Alpen versteckte Meer tost durch meine Gehörgänge. Das Klingelingeling meiner Whatsapp. 

Stimmen und Lachen von der Strasse und den umliegenden Balkonen wecken mein Bewusstsein für Gefahr. 

Manchmal dringt der Geruch von scharfem Kaffee oder süsslichem Haschisch herein. Der Stuhl drückt gegen die Unterseite der Oberschenkel und am Po. Die Fingerspitzen tanzen über die Tastatur. Vertippe ich mich, steigt Jähzorn auf. Immer öfters fühle ich in meinem Isolationsdorf diesen mich heimsuchenden, tückischen Jähzorn. Was mir jedoch erst so richtig ins Bewusstsein kommt, wenn ich in die anderen Dörfer auf den Balkonen und in den erleuchteten Fenstern der Nacht schaue. 

Der Neid der Einsamen. 

«Immer öfters fühle ich in meinem Isolationsdorf diesen mich heimsuchenden, tückischen Jähzorn.»

Um meine Sehnsucht nach Geborgenheit zu stillen, schaue ich also bei Alice B. Toklas nach. Und finde ein nahrhaftes und sparsames Rezept für unsere Isolationsdörfer. Für Francis Picabia in Kriegszeiten erfunden, als Toklas und Stein zurückgezogen in Haus und Garten in Südfrankreich lebten. Man nehme 8 Eier und 250 Gramm Butter. Und 30 Minuten Kochzeit. 

Die Kochanleitung sei Ihrer eigenen Imagination überlassen. Nur so viel sei gesagt: Die Kochzeit müssen Sie unbedingt einhalten …

Johanna Lier, 1962 geboren, ist Dichterin und Journalistin. Sie ist viel unterwegs und lebt immer mal wieder in Zürich. Im Mai 2019 erschien ihr zweiter Roman, «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», im Verlag Die Brotsuppe in Biel.

zurück