Ausgabe

DIEBINNEN UND ANDERE RÄUBER

No. 45 | 2023/1

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1 ist Diebinnen und Räubern auf der Spur.

Auftritt: Monika Rechsteiner;
Umschlag: Serafin Krieger;
Bildbogen: David Berweger;
Texte: Joachim B. Schmidt, Nicole Pfister Fetz, David Glanzmann und CHATGPT u.v.m.

Online blättern
Ausgabe bestellen

Thema

Aio Frei und die Herisauer Posträuberin

von Ursula Badrutt

Die Geschichte ist eine Weile her. Der Postraub in Herisau soll Anfang der 1970er-Jahre stattgefunden haben, die künstlerische Arbeit dazu im Schaukasten Herisau, «Something was always missing (ca. 1970–1976)» folgte im Jahr 2010. Der Schaukasten Herisau, zu dem Aio Frei (ehemals Anna Frei) eingeladen wurde, war von 2006 bis 2014 ein Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst in einem Werbekasten gleich bei der Post. Ob Aio Frei, geboren 1982, tätig an der Schnittstelle Soundart/bildende Kunst, sich erneut damit beschäftigen mag? Aio mag. «Mich fasziniert noch immer die Melancholie der Geschichte, die Einsamkeit der Figur, das Gefühl, nicht verstanden zu sein.» Es gehe bei dieser Arbeit auch gar nicht so sehr um den Raub und die Räuberin, sondern um die Erinnerungen dazu. Diese sind vielfältig, widersprüchlich und unstet. Auf die Geschichte gestossen ist Aio Frei eher zufällig. Eigentlich wollte Aio als Teil der künstlerischen Intervention das Gitter des sich unter dem Schaukasten befindenden Schachts entfernen und die Tiefe ausleuchten. Aus Sicherheitsgründen wurde dies nicht erlaubt. Die Spur der Ideenentwicklung aber war gelegt. Aio Frei erkundigte sich mehr aus Jux bei einer Person, die einst in Herisau lebte und in jungen Jahren Kontakte zum Milieu hatte. «Ja», war die unerwartete Antwort, «es gibt den Postraub Herisau, ich kenne den Täter, er hat immer mal wieder von diesem grossen Coup erzählt. Lass uns ihn besuchen.» So startete eine aufwändige Recherchephase, in der sich Aio Frei mit vielen Personen traf, die auf unterschiedliche Art in den Postraub verwickelt waren. Nicht nur den vermeintlichen Posträuber, sondern auch Polizisten, Postangestellte, Archivarinnen, Gemeindeschreiber. Die Gespräche brachten Widersprüchliches zu Tage. Was ist geschehen? Dokumentiert ist nichts. Der Überfall war minutiös vorbereitet, nur: Der Plan flog auf, die Polizei bekam Wind davon, verhinderte die Sache, die Einbrecher flüchteten. Bis heute. Vielleicht ist ein Schuss aus einer Dienstwaffe gefallen, der das Heck eines vor dem Zeughaus parkierten Autos durchlöcherte. Aio Frei entwickelte aus den verschiedenen Aussagen eine Audioarbeit, die einzig über eine Telefonnummer abgerufen werden konnte. Stück für Stück kamen Momente einer fragmentarisch fiktiven und fragilen Rekonstruktion zum Vorschein, sensibel, fesselnd, humorvoll. Die Figur des Einbrechers bleibt für Aio Frei eine tragische und hat die eigenen romantischen Vorstellungen vom Banditentum mit produktiver, politischer Haltung ernüchtert. Oder zumindest relativiert. «Die Einsamkeit, der Stress, die Notwendigkeit, mit Diebstählen zu prahlen, keine wirkliche Identität haben zu dürfen, den Knast als Zuhause und Unabhängigkeit nur als Illusion: Diese Figur des Kleinkriminellen hat für mich nicht viel Erstrebenswertes. Ich empfinde sie als traurig, ohne Perspektiven und in der eigenen Spiessigkeit gefangen.» In der Audioarbeit klingt es folgendermassen: «[…] Sie war eine Einzelgängerin. Sie mochte Tresore. […] Im Gefängnis in Regensdorf hat sie gelernt, Geranien zu züchten. Das konnte sie wirklich gut. Die letzten Jahre hat sie sehr konservativ gelebt, hatte normale Jobs, ihr Geld wie jeder andere verdient.»

zurück