Ausgabe

GRAFIKDESIGN

No. 38 | 2020/3

«Obacht Kultur» N° 38, 2020/3 setzt dem Grafikdesign ein Zeichen.

Auftritt: Willi Kunz;
Bildbogen: H.R. Fricker;
Umschlag: Wassili Widmer;
Texte: Judith Keller, Angela Kuratli, Dana Grigorcea u.v.m.

Online blättern
Ausgabe bestellen

Frischluft II

Mein Aquarium

von Dana Grigorcea

Meinen Ohrensessel, auf dem ich lese, habe ich zum Aquarium gerückt, und wenn ich von meinem Buch aufschaue, verliert sich mein Blick in dieser wundersamen Unterwasserwelt. Es ist fast so wie früher: Das erste Aquarium meines Lebens bekam ich als Kind von einem dicken Mädchen geschenkt, das Rivka hiess und meine Freundin sein wollte. Es waren die achtziger Jahre im kommunistischen Bukarest; ich erinnere mich nicht, dass wir Tierhandlungen gehabt hätten. Rivka aber besass Meerschweinchen und zwei Aquarien und hatte eine Grossmutter, die ihr unentwegt hinterherlief, für den Fall, dass Rivka etwas essen oder trinken wollte. Nur Freunde hatte sie keine. Ob ich ein grosses Aquarium mit schönen Pflanzen und knallbunten Fischen haben wolle, fragte mich eines Tages Rivkas Grossmutter. Sie lud mich zu ihnen ein, kochte ausgiebig, gleich zwei unterschiedliche Desserts, und liess Rivka die Meerschweinchen vorführen und die Fische, auch brachten sie mir das Kartenspiel «Pinnacle» bei. Am Abend begleitete mich Rivka mit ihrer Grossmutter und dem geschenkten Aquarium nach Hause. Zu Jahresbeginn, also weit vor Pandemie und Lockdown, erfüllte ich mir einen Kindheitstraum und beschaffte mir für unsere Wohnung ein sechzig Liter fassendes Aquarium, und zwar eines mit allem Drum und Dran: Beleuchtung mit Zeitschalter, schwarzem Vulkangestein, einer Mangrovenwurzel und einem Paradies aus wehenden Wasserpflanzen. Nach dreiwöchiger Karenz für die Sauerstoffanreicherung und die korrekte pH-Balance sowie nach ausgiebiger Lektüre zu ethisch tragbarer Beschaffung nicht-heimischer Lebewesen und deren artgerechter Haltung setzte ich die ersten Tiere im Aquarium aus: schwarze Stahlhelmschnecken, die an der Scheibe ihr riesiges Mundwerkzeug öffneten, Zebra-Apfelschnecken mit langen Fühlern, die sie beim Hinabgleiten sanft wie Flügel bewegen. Nach und nach stiessen rote Sakura- und Yellow-Fire-Garnelen dazu sowie quirlige, zänkische Endler-Guppys, scheue Galaxy-Bärblinge, silbern gepunktet, und, die sympathischsten von allen: marmorierte Zwergpanzerwelse, die aneinander streifen und sich gemeinsam, mit halbgeschlossenen Augen, auf einem Blatt wiegen. Ich sehe es vor mir, das dicke, milchige Glas meines ersten Aquariums, der darin schwimmende Pflanzenstängel und die Fische mit ihren bunten Schwänzchen. Über einen Bekannten gelang es meinem Vater, zwei rote Fische zu beschaffen, die er mir feierlich ins Aquarium legte. Kaum im Aquarium, schwammen sie in merkwürdig gezackten Bahnen, das Wasser wallte sich an der Oberfläche, und wir merkten viel zu spät, dass sie den anderen Fischen die Schwänze abbissen und sie schliesslich auffrassen. Einige Tage später waren aber auch die roten Fische tot. In der Schule ging ich, aus Verlegenheit, Rivka aus dem Weg, und wenn ich sie auf mich zukommen sah, lief ich davon... Manchmal, beim Betrachten meiner marmornen Zwergpanzerwelse, denke ich noch an sie. Wir hätten uns damals bestimmt gut verstanden.

Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest, Rumänien, geboren und lebt seit 2007 in Zürich. Die Schriftstellerin und Philologin schreibt für Erwachsene und
Kinder. Im Frühling 2021 erscheint ihr neuer Roman «Die nicht sterben» beim Penguin Verlag, München.

zurück