Ausgabe

HEIMWEH

No. 37 | 2020/2

«Obacht Kultur» N° 37, 2020/2  hat Heimweh.

Auftritt: Nora Rekade;
Bildbogen: Pascal Häusermann und Costa Vece;
Texte: Andri Perl, Franziska Schläpfer, Arno Geiger u.v.m.

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Frischluft

Du hast mir von Zuhause erzählt

von Andri Perl

Du hast mir von zuhause erzählt. Nun sitzt du da, den Blick im Nichts, die Gedanken versunken in einer Welt, die es nie mehr geben wird, so wie du sie erinnerst. Wir schweigen ein jeder für sich. Für mich füge ich zusammen, was mir abhandengekommen wäre in deiner Lage, was mich ein wenig beschämt, doch ich fühle: Nur so kann ich dir wenigstens ein paar Schritte auf deiner Spur folgen.

An das Licht des Herbstes denke ich, das mich blendet und erfüllt, wenn ich über dem Tal stehe und frischen Atem hole. An die Winkel im Wald, die nur ich kenne, die ich niemandem verrate, die niemand ausser mir vermissen würde – dort wachsen Pilze im Reisig unter den Fichten. Sie riechen nach dem Inneren der Erde. An den Waldrand denke ich, der einen verschlingt oder frei lässt, je nach Laune. An den Pfad hinunter ins Quartier denke ich, die gefegten Vorplätze, auf denen mir neugierige Hunde nachschauen, als würden sie Protokoll führen. An die Kreidezeichnungen der Nachbarskinder, die der Nachmittagsregen verschont hat, denke ich. An den Garten hinter der Scheune denke ich, aus denen mir die Tante Tomaten und Kürbisse und reife Pflaumen aufs Fensterbrett legt. Sie riechen nach einem Festmahl.

«An den Pfad hinunter ins Quartier denke ich, die gefegten Vorplätze, auf denen mir neugierige Hunde nachschauen, als würden sie Protokoll führen.»

An den gut versteckten Raum hinter der Tiefgarage denke ich, den wir damals mit bunten Tüchern, Postern und unseren Zukunftsträumen ausgehängt haben. Die Hoffnung. Der Zusammenhalt. Ich denke daran, dass ich jeden Tag an Orten vorbeilaufe, von denen ich sagen darf: hier. Hier habe ich über ein Tor gejubelt. Hier habe ich etwas gestohlen zur Mutprobe. Hier habe ich mir den ersten Rausch geholt. Hier habe ich zum ersten Mal geküsst mit ganzem Verlangen. Du hast mir von zuhause erzählt. Doch auch von dir. Wie du jemand warst, den die Alten von ferne grüssten, wenn sie ihn über die Marktstrasse gehen sahen. Gegrüsst zu werden und diejenigen zu kennen, die einen grüssen, und im Gruss nicht bloss reine Höflichkeit oder sogar Misstrauen zu hören. Du hast mir von diesem Tonfall erzählt. Wie ein Zuhause klingt er.

Und während wir schweigen, schliesse ich die Augen. Von ferne höre ich die Schellen des Viehs, ich höre, wie die Bachläufe sich zum Fluss sammeln. Ich höre den heiseren Ruf der Hausrotschwänze und ich höre die Krähen streiten. Das Ofenfeuer höre ich knistern, und ich höre, wie die Stubenuhr, an welcher ein Pendel schwingt, die Zeit vorantreibt, während ein Sturm am Dach rüttelt. Ich höre, wie meine Grossmutter Melodien summt, die irgendwo aus der Tiefe ihrer Jugend auftauchen, immerzu summt sie, und ich weiss, dass alles in bester Ordnung ist, solange nur das Summen nicht verstummt. Ich höre das Abendläuten. Ich höre die offenen Vokale des Dialekts, den ich spreche, von überall her und vergnüge mich dabei, die Gäste an der Bar zu belauschen. Wie sie prahlen, klagen und liebreizen. Ich stehe auf der Tanzfläche und fühle den Bass in allen Eingeweiden. Auf dem Heimweg höre ich das Erwachen der Wiesen und Hecken. Auf dem Heimweg. Dieser Ausdruck. Er erschüttert mich.

Du hast mir von zuhause erzählt.

Andri Perl, 1984 geboren, lebt in Chur, ist Rapper bei «Breitbild» und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013).

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