IM HOLZ
No. 39 | 2021/1«Obacht Kultur» N° 39, 2021/1 geht in den Wald.
Auftritt: Andrea Corciulo;
Bildbogen: Salome Lippuner;
Umschlag: Hans Schweizer;
Texte: Leo Tuor, Noëmi Brüggemann, Zora Debrunner u.v.m.
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Fensterblick
Nachdenken im Wald
von Zora Debrunner
Wenn ich an den Wald denke, dann kommt mir als Erstes mein kürzlich verstorbener Vater in den Sinn. Er war es, der mich seit frühester Kindheit auf seine Spaziergänge mitgenommen hat. Der mir die Angst vor dem Dunklen genommen und die Liebe zu den Bäumen und den Geschöpfen des Waldes nähergebracht hat. Meine Liebe zum Wald ist eine Vaterliebe. Mein Familienname, Debrunner, bedeutet «Hirschbrunnen» oder «Hirschtränke». Mir gefällt die Vorstellung, dass meine Familie dem Thurgauer Weiler «Debrunne» entspringt, der mitten im Wald liegt, wo die Hirsche tranken. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich mein ganzes Leben lang in der Nähe des Waldes gelebt, ganz gleich ob im Thurgau, in der Waadt oder jetzt im Toggenburg. Ohne das tiefe Grün der Bäume scheine ich nicht glücklich zu sein. Von meinem Haus aus sehe ich auf den Hügel, wo einst die Burg Neu-Toggenburg stand. Ich liebe die Wanderung zur Ruine, quer durch den Wald, über die Wälle, hoch über der Wasserfluh. An meinen Vater denke ich auch oft, wenn ich im Rahmen meiner Jagdausbildung mit einem der Jagdpächter des hiesigen, wunderschönen Reviers mitgehen darf. Ich hätte mir gewünscht, dass ich all das, was ich während der Jagd erlebe, länger mit meinem Vater hätte teilen dürfen. Weil ich weiss, wie sehr mein Vater all diese Erzählungen über meine Erlebnisse genossen hätte. Seit ich in der Jagdausbildung bin, und das ist dank Corona ein Jahr länger als geplant, lerne ich den Wald nochmals ganz anders kennen. Ich lerne Baum- und Straucharten auswendig, erkenne und analysiere die verschiedensten Lebensräume von Tieren und Pflanzen, setze mich mit dem Erkennen von Krankheiten am lebenden und toten Tier auseinander. Doch ich lerne sehr viel mehr noch über mich: Wie ich zu Kraft komme, wenn ich müde bin. Wie ich ruhig bleibe, obwohl mein Herz vor Aufregung fast zerspringt. Wie ich mich lautlos im Wald bewege. Wie ich zu einem Teil des Waldes werde, weil es gut so ist. Ich bin gerne bei Wind und Regen, bei Hitze im Wald. Mir fällt auf, wie rasch sich mein Herzschlag beruhigt, sobald ich mich unter den Blättern und Ästen bewege, wenn ich den Duft des Waldes, der Nadelbäume einatme. Wolf-Dieter Storl, der deutsche Kulturanthropologe, schrieb ein Buch mit dem Titel «Wir sind Geschöpfe des Waldes – warum wir untrennbar mit den Bäumen verbunden sind». Die Publikation, obwohl nicht Prüfungsstoff, begleitet mich seither durch mein Leben. Die Auseinandersetzung mit dem Wald passiert hier nochmals auf einer anderen, tieferen Ebene. Die alte Frage, woher wir kommen und wohin wir gehen, ist im Wald gut aufgehoben. Mein Wald tröstet. Als Vater starb, war ich sehr traurig. Ich fühle mich nicht mehr alleine. Die Bäume sind alt und geduldig, und manchmal denke ich daran, wie ich als Kind auf dem Spaziergang hoffnungsvoll seine Hand gefasst habe, im Wissen, dass alles gut wird.
Zora Debrunner, 1977 in Wil SG geboren, ist Autorin und Fachfrau Betreuung. Sie lebt und schreibt im Toggenburg, arbeitet im Thurgau. Sie bloggt über verschiedenste Themen wie Creative Writing, Tagebuch schreiben, Trauern und die Jagd. 2014 erschien ihr erster Roman «Lavinia Morgan – Privatdetektivin»,
2015 «Demenz für Anfänger» im Ullstein Verlag.