Ausgabe

Nah beim Tanz

No. 19 | 2014/2

«Obacht Kultur» No. 19, 2014/2 begibt sich auf den vibrierenden Tanzboden der Ostschweiz Auftrittt: Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner, Bilder: Labanotationen, Katja Schenker, Textbeiträge: Alain Claude Sulzer, Andrew Holland, Soli: Martin Schläpfer, Philip Amann, …

PDF (ohne Auftritt in der Heftmitte)
Online blättern
«Obacht Kultur» N° 19, 2014/2 hat sich zu einem Paartanz entwickelt, das Hauptheft begibt sich auf den vibrierenden Tanzboden der Ostschweiz und die Sonderausgabe zur Kulturlandsgemeinde pendelt zwischen Mitte und Rand. Sigurd Leeder hat vor längerer Zeit Herisau zu einem Zentrum der Tanzschaffenden gemacht, heute setzen Martin Schläpfer, Gisa Frank, Philip Amann, Andrew Holland, Rut Ackermann, Cordelia Alder oder Bettina Castaño verschiedenste erfolgreiche Akzente. Katja Schenker zeigt in ihrem Bild einen stillen Tanz mit der eigenen Umarmung, Claude Alain Sulzer erinnert sich in der Frischluft an seine abgebrochenen Anfänge als danseur étoile. Mirjam Kradolfer und Stefan Rohner verwachsen im Paartanz in der Heftmitte zum Zebra. Und die Gedächtnistexte führen in die Tanzsäle, die Tanzverbote von einst, zum Tanz im Brauchtum und in der Volksmusik. Unter dem Titel «Mitten am Rand» hat die Kulturlandsgemeinde im Mai 2014 in Schönengrund mit Debatten, Kunstinterventionen, Theater und Spiel das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie erkundet und die Sensibilität für Standpunkte und Perspektiven geschärft. Einige davon sind im Heft festgehalten. Weiterführende Texte, Bild- und Tonbeiträge.

Web-Mehrwert

Ergänzende Inhalte zu
der gedruckten Ausgabe
Auftritt

«Gestreifte Anzüge sind wieder modern»

Mirjam Kradolfer, Stefan Rohner, 2014

Filmstill aus dem gleichnamigen Videoloop

gedruckt auf Olin rough high white, 150 g/m2

 

Video

«Gestreifte Anzüge sind wieder modern»

Mirjam Kradolfer, Stefan Rohner, 2014

Videoloop (mit Sound von nomadton, Sven Bösiger und Patrick Kessler)

Bildstrecke

«Labanotationen»

Fonds Sigurd Leeder, Schweizer Tanzarchiv, 1977, 1978

Notationen «Danse macabre», «Die Pforte» und «Tropische Stimmung»

Notationserklärung als <media 1632>PDF</media>

Bildstrecke

«Festsäle in Appenzell Ausserrhoden»

Bilder: Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden und Sammlung Werner Holderegger, 2014

1 und 2 Gasthaus Bellvue Reute

3 Hotel Linde Heiden

4 Hotel Linde Teufen

5 Brauerei Stein

Text

«Königsberger Klopse und Nescafé»

Rut Ackermann, 1980

Königsberger Klopse und Nescafé

Mein erstes Jahr an der „Sigurd Leeder School of Dance“, Herisau

 Es war das Jahr 1965. Ich kam morgens immer früh genug. Zunächst betrat man einen kleinen Windfang mit braunem Fussabtreter und einem Fenster auf der linken Seite. In diesem kleinen Raum durften wir, wenn‘s draussen zu eisig war, bei offenem Fenster rauchen. Allerdings nur kurze Zeit. Danach mussten wir auch im Winter raus. Wir zogen unsere Stiefel und Jacken über die nass verschwitzten schwarzen Baumwoll-Tricots, plapperten im Tiefschnee vor der Schule (gepfadet wurde nie, wer hätte schon Schnee schaufeln sollen) und rauchten unsere Murattis und Gauloises während den kurzen Pausen zwischen den Klassen. Es musste sein, wir hätten sonst nicht überlebt. Wenn die Sonne schien, war es draussen wärmer als in der ungeheizten Garderobe. Zwar gab es einen grossen Heizkörper, jeden Morgen legte ich als erstes eine Hand darauf. Er war immer kalt, ausser samstags, wenn die Zürcher kamen.

Nach dem Windfang die Glastüre, das Glas gewellt, man sah nicht hindurch. Dahinter ein länglicher Gang mit einem fröhlich roten, rauen Teppich. In der Mitte des Flurs führte rechts eine Türe in besagte Garderobe, eine andere links in die “geheime Welt“. Ewas vorne rechts war die Türe des Gäste-Klos und geradeaus das “Studio“. An den Wänden hingen viele ganz kleine Metall-Haken für Mäntel und Jacken.

Ich ging immer zuerst rechts in die Garderobe. Sofort kam einem der bekannte Geruch entgegen –nach Feuchtigkeit, Kälte. Auch der Plastikvorhang der neben der Garderobe liegenden Dusche mit WC und Lavobo strömte diesen Geruch aus. Der Duschvorhang war ursprünglich wohl weiss gewesen, jetzt war er grau von Kalk und völlig steif. Es gab in der Dusche und im Lavabo nur kaltes Wasser. Als ich 10 Jahre später an die Schule zurückkam, roch es immer noch gleich; der Duschvorhang war derselbe, nur zerschlissener. Ich zog also meistens schlotternd die Kleider aus und das schwarze Tricot an. Dabei musste man darauf achten, mit den Füssen auf dem Holzrost zu stehen, mit dem ein Teil der Garderoben ausgelegt war. Der Boden daneben war eiskalt.

In der Garderobe war ich meistens allein. Ich war 16 Jahre alt, die erste und einzige Ausbildungsschülerin der Sigurd Leeder School of Dance Schweiz in Herisau. Es dauerte ein Jahr, bis weitere hinzukamen.

Jetzt also raus aus der Garderobe, vorbei am Gäste-Klo. Dort hatte sich jeweils auch W. umgezogen. Weshalb er dies im Gäste-Klo tat, wo es doch in der “geheimen Welt“ bestimmt jede Menge Platz gab, war eines der Rätsel. Zusammen gingen wir in das Studio. Der Raum war gross und hell, Parkettboden, eine ganze Fensterfront erlaubte den Blick ins Grüne, auf Dorf und Hügel, vor den Fenstern eine durchgehende Lattenbank, darunter die kalten Heizkörper, Ballettstangen an der Wand, ein sehr kleiner Spiegel, ganz in die Ecke geklemmt. In diesem Spiegel konnte sich nur die Person sehen, die zuvorderst an der Stange stand. W., Balletttänzer, Chilene, Lebenspartner von Leeder, spricht spanisch mit mir. Ich kann kein Spanisch, aber irgendwie verstehe ich ihn. Als Balletttänzer ist er dem modernen Tanz gegenüber, gelinde gesagt, eher skeptisch eingestellt. Damit ich nicht allein bin, nimmt er Gott sei Dank an allen Klassen teil - natürlich werden wir später Tanzpartner, bekommen von Leeder schöne Duette und machen eigene Choreografien.

W. beobachtete täglich mein Aufwärmen und schimpfte lautstark auf Spanisch, sobald ich eine Bewegung machte, die nicht in sein klassisches Repertoire passte. Wir verstummten, sobald wir die Stimmen von draussen hörten. Leeder kam fast immer freundlich und gut gelaunt in den Raum. Fräulein Müller hatte immer irgendetwas vergessen und trippelte zurück und hin und her. Die Stimmung zwischen ihr und Sigurd Leeder war augenscheinlich angespannt. So freundlich sich Leeder an uns wandte, so unwirsch ging er mit Fräulein Müller um. Ich war froh, dass neben W. auch Fräulein Müller die Klasse mitmachte und stellte mich in die Mitte zwischen die beiden. W. stand vorne am Spiegel, Fräulein Müller hinter mir. Leeder sieht sich nach seinem Tamburin um, Fräulein Müller eilt und will es ihm bringen, “schlp, schlp, schlp“ durch den Saal und hin und her. “Kannst Du denn nicht einmal die Füsse anheben, und kalt ist es auch in diesem Saal“. Fräulein Müller dreht die Heizung auf, “schlp“ zurück an die Stange, W. und ich grinsen uns an, Fräulein Müller lächelt milde, Leeder schlägt aufs Tamburin, die Klasse kann beginnen.

Die Technik-Klasse begann um 9.15 Uhr und war für mich stark verbunden mit dem Geruch nach Nescafé. Füsse parallel, an der Stange stehend, begann der Unterricht immer gleich mit Demi-Plié, Flex, Releve, Fersen down und umgekehrt beginnend. W. machte in der Regel noch kurz ein sehr ausgedrehtes Grand Plié, zog die Brauen hoch und seufzte. Dann passte er sich dank eines scharf zurechtweisenden Blickes von Leeder den Übungen an. Ich hatte vorher nur Ballett gemacht, zehn Jahre als Hobby, dann ein Jahr in einem Profiprogramm. Ich war über jede einzelne dieser neuen freien und dynamischen Bewegungen glücklich.

Ich liebte den modernen Tanz mit seinen freien, expressiven Formen. Es war das, was mich direkt berührte, was ich unbewusst im Tanz immer gesucht hatte. Leeder war für mich eine grosse Respektsperson mit unglaublicher pädagogischer Inspiration. Er konnte alles aus mir herausholen. Meine Begeisterung und Freude, an dieser Schule sein zu können, als einzige Schülerin so stark wahrgenommen, ermutigt und gefordert zu werden, machte mich zu einem Schwamm, der einfach nur aufnahm. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Dinge zu kritisieren oder in Frage zu stellen.

Leeders Geduld und Einsatz bewundere ich noch heute. Ich empfand mich nicht als besondere Begabung, mir war eigentlich nur eines bewusst, dass ich mir genau das einverleiben will, was ich hier bekomme: Tanz in einer direkten, ausdrucksstarken, ungekünstelt ehrlichen Form und endlos kreative Anregungen. Die Wochen vergingen wie im Fluge. Manche Tage waren besonders schön, beispielsweise mittwochs, wenn Evelyn kam. Sie hatte die Leeder-Ausbildung vor ein paar Jahren in England gemacht und wurde für mich zum Vorbild. Sie war klein und dynamisch wie ein Feuerball - eine starke Tänzerin. Mir gefielen ihre zierliche Figur, das Madonnengesicht, die tiefschwarzen, endlos langen Haare. Sie kam ein- bis zweimal die Woche, war verständnisvoll und lieb, hat mich ernst genommen und mir viel von ihrem Wissen weitergegeben. Überhaupt waren jene Tage, an denen jemand von aussen kam, für mich Festtage. Ich wollte ja Vorbilder sehen, W. war zwar ein schöner Tänzer, mit seinem Gemecker und seiner Ballett-Manie aber nicht gerade mein tänzerisches Ideal. Fräulein Müller war schon im Alter meiner Mutter, und meine Mutter hat mich spät bekommen. Leeder, meist sitzend, hatte die Bewegungen meistens nur angedeutet. So war Evelyn die einzige Person, bei der ich sehen konnte, wie die Bewegungen ausgeführt sein könnten.

Leeder hatte Mühe mit der deutschen Sprache. Zwar sprach er sie als gebürtiger Deutscher gut, aber es fiel ihm schwer, sie im Unterricht zu verwenden – ein grosses Thema zu dieser Zeit. Er mochte ihren Klang nicht. All die Jahre zuvor hatte er in Englisch, in Santiago auch in Spanisch unterrichtet. Die beiden Sprachen lagen ihm näher. Er fiel beim Unterricht immer wieder ins Englische, suchte lange nach der perfekten deutschen Übersetzung für ein bestimmtes Wort, ärgerte sich oft, dass seine Inhalte nicht verständlich wurden. Oft sprach er Spanisch mit W. und dachte, ich würde so ebenfalls Spanisch lernen. Der Sprache kam im Unterricht eine enorme Bedeutung zu, wurde Tanz doch weniger durch vorgemachte Bewegung, sondern durch Sprache vermittelt. Es wurde äusserst bewusst mit Sprache umgegangen. Was muss immer wieder verwendet werden, welche Ausdrücke darf ich nie verwenden. So wurde z.B. das Ballett-Vokabular benutzt, anatomische Ausdrücke jedoch wurden vermieden. Tanz wurde rein über die emotionale oder bildhafte Sprache vermittelt.

“Du musst Englisch lernen“, sagte Leeder zu mir “Du brauchst das später sowieso. Ich werde Dir die englische Sprache beibringen.“ Ich war aufgeregt, hatte schon mit der Tanzerei genug zu tun, wollte aber diese Chance nicht verpassen. Sein Englischunterricht war unkonventionell. Er unterrichtete mich bei sich zuhause, “das ist etwas privates, ich mache das dir und mir zuliebe. Es hat nichts mit der Tanzschule zu tun.“ Es waren die einzigen Stunden, wo Fräulein Müller nicht dabei war, mitmachte oder zuschaute.

Zu Beginn musste Leeder für kurze Zeit in der Schule wohnen. Das war hinter der Tür links in „der geheimen Welt“. Dann bezog er zusammen mit W. eine Wohnung im obersten Stockwerk eines in der Nähe liegenden typischen appenzellischen Wohnhauses. Es war eine hübsche Wohnung. Den kleinen Eingangsbereich, Küche rechts, Wohnzimmer geradeaus, Leeders Zimmer gleich dahinter. Die Wohnung war sehr kreativ ausgestattet, verschiedenste Möbelstücke, Stühle, Tischchen, Bücher, Skulpturen, Gemälde, Fotos; es spiegelte sich ein komplexes Leben und viele Geschichten in dieser Einrichtung. Der Englischunterricht fand am späten Nachmittag statt. Wir sassen im Wohnzimmer am runden Esstisch, das Licht fiel meistens intensiv durch die Fenster, man hatte auch hier eine schöne Sicht auf die Appenzeller Landschaft bis zum Alpstein.

Er hatte für den Unterricht eigens ein Heft gekauft, schrieb spontan Sätze hinein, liess sie mich x-mal nachsprechen und in der folgenden Unterrichtsstunde musste ich sie auswendig wiederholen können. Der Unterricht war alles andere als trocken, gespickt mit Humor. Besonders gerne lehrte er mich Kraftausdrücke. Die gesamte Atmosphäre war hier entspannt und gelöst. Manchmal hat W. etwas gekocht, beispielsweise Würste im Teig, mit Senf und scharf gewürzt, im Ofen gebacken. Dazu gab es Salat, und alles schmeckte sehr gut. Ich glaube, Fräulein Müller war mit diesen privaten Zusammenkünften nicht einverstanden. Oft hat sie unten geläutet, es gab ein grosses Palaver auf Spanisch, das ich nicht verstand. W. wollte sie partout nicht in der Wohnung haben. W. und Fräulein Müller konnten sich buchstäblich nicht riechen. Es gab da eine grosse Eifersucht. Später wurde der Englischunterricht wieder eingestellt, die sporadischen Abendessen aber dauerten an.

Leeder hat mich in allen Fächern unterrichtet. Immer. Ich war oft allein. Bei Fräulein Müller hatte ich einzig eine Lektion Labanotation pro Woche. Sie war für mich einfach die Frau, der die Schule gehört, die es geschafft hatte, diesen berühmten Mann nach Herisau zu locken, die immer präsent war, immer in schwarzer Strumpfhose, schwarzem Tricot mit langen Ärmeln und schwarzen Ballett-Schläppli an den Füssen, die nie richtig heizte und so sparsam war, dass es weh tat. Sie lebte allein mit ihrer Mutter in einer 24-Zimmer-Fabrikantenvilla. Kurz: ein grosses Geheimnis. Sie tat alles für Leeder, und obwohl er sie oft, ja täglich in irgendeiner Art beleidigte und blossstellte, war sie freundlich, lächelte, ordnete sich unter, wie seine ewige Schülerin.

“We have to put Herisau on the map“ war einer von Leeders Lieblingssätzen. Er ging raus und unterrichtete, soviel ich weiss, an einer Verbandstagung. So entstand der Samstagskurs. Obwohl ich für damalige Verhältnisse gross, vorher und später immer?dünn, in dieser Zeit jedoch mit etwas Babyspeck versehen war, kam ich mir unter all den Teilnehmerinnen vollkommen verloren vor. Das “Studio“, sonst so hell, gross, leer, erschien mit dunkel, ja schwarz vor lauter Riesenwalküren. Es war laut, es herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, alle redeten durcheinander, alle kannten sich: „Ah! Du auch da! Grossartig, dieser Mann jetzt bei uns - in der Schweiz! “ Ich kannte niemanden, und niemand sprach mich an. Es muss für die Walküren ein erhebender, enorm wichtiger Moment gewesen sein, an diesem historischen ersten Samstagskurs dabei zu sein. Sie schüchterten mich gewaltig ein mit ihrem Gehabe. Für mich war das alles neu. Zudem hatte ich meinen Unterricht ja jeden Tag und die gesamte Aufmerksamkeit des “Meisters“ für mich alleine. Als Leeder hereinkam, wurde applaudiert, er sonnte sich, und seine Freude war spürbar, endlich wieder einmal vor einer grossen Klasse zu stehen. In der Klasse ging die Post ab. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht mehr klein, sondern konnte teilnehmen an diesem Energieschub, der den Raum erfüllte. Die mir bekannten Schwünge, Sprünge, Tilts, Balance usw. bekamen eine Kraft, die spürbar von der Gruppe ausging und die sich auf alle übertrug. Zwar fühlte ich mich noch immer allein, wie auf der anderen Seite stehend, trotzdem genoss ich die Samstagskurse. Mit der Zeit konnte ich mich profilieren und gewann mehr Sicherheit. Immerhin werde ich die erste junge Frau sein, die in der Schweiz das Sigurd Leeder Diplom erhält - also los und noch einmal! Die Walküren waren vorwiegend Gymnastik- und Sportlehrerinnen, aber auch einfach Tanzbegeisterte waren darunter, und Gott sei Dank Evelyn, meine Stütze. Alle waren älter als ich.

Ich glaube, dass Leeder die Kurse sehr genossen hat, nebst unserem alltäglichen kleinen Trio. Allerdings, so fand er, gab es viel zu wenige moderne Tänzerinnen in der Schweiz. Er träumte davon und drängte darauf, Vorstellungen zu machen, seine Gruppenchoreografien einstudieren zu können. Allein: es fehlten die Tänzerinnen. Zur Verfügung standen Evelyn, W. und ich, das reichte nicht. Der berühmte ”Bolero“, “Danse Macabre“, “Auf der Flucht“, von denen ich schon so viel gehört hatte, mussten warten, da mindesten 6 Tänzerinnen dafür benötigt wurden.

Ich war sehr gespannt, was da noch alles auf mich?zukommen würde. Auch gierig nach Information über den modernen Ausdruckstanz, von dem ich kaum etwas kannte. Bruchstückhaft hörte ich Namen von Balletten, Tänzern, Orten, Joos, Züllig, Jean Cebron, June Kemp; immer wieder «Dartington Hall», «Der Grüne Tisch», für mich war alles in einem dichten Nebel. Ich wusste, dass Leeder von Kurt Joos verletzt worden war. Trotzdem wünschte er sich, ihn wieder zu sehen. Joos war an der Folkwang-Schule. Sie hatten gemeinsam die Joos-Leeder-Methode entwickelt, eine konsequente Modern-Technik, Eukinetik, Choreutik, Improvisation, Interpretation, Komposition, Bodenarbeit waren die Inhalte. Es gab Anlehnungen, Inspiration durch Laban‘sche Ideen, die gesamte Methode aber war eigenständig. Der Besuch von Ballettunterricht ausserhalb war schlichtweg verboten. Dieses Tabu habe ich ab und zu gebrochen, nicht wegen meiner Liebe zum Ballett, sondern weil W. mich derart bearbeitete, dass es einfacher war, eine Ballettklasse zu besuchen als seine endlosen Monologe auszuhalten.

Leeder hatte während der Jahrzehnte seines Schaffens unzählige wunderschöne Etüden zu den Inhalten der einzelnen Fächer entwickelt. Es waren eigentliche Choreografien. Viele, die ich lernte, sind in Chile entstanden, wo Leeder?sechs Jahre lang an der Universität in Santiago das Departement Moderner Tanz leitete. Offenbar bestand eine fruchtbare Zusammenarbeit mit chilenischen Musikern und Komponisten, die eigens Musik zu den Etuden und Choreografien komponierten. Es gab zudem noch viele unbetanzte Musikstücke, einige hat Leeder für mich als Solo choreografiert, auch für W. und als Duette für uns beide. Leeder hatte seine gesamte Arbeit - alles - akribisch genau in Labanotation aufgeschrieben, immer wieder erneuert und angepasst. Mir gegenüber hatte er damals geäussert, dass dies wohl alles einmal von der Laban-Gesellschaft erworben werde. Obwohl Leeder mit der Laban-Methode nicht uneingeschränkt glücklich war. Aber vielleicht gab es für ihn sowieso nur seine Methode und gleichzeitig die Angst, es könnte irgendwer irgendwo irgendwann etwas missbrauchen und nicht in seinem Sinne verwenden. Es gab bei ihm eine verkrampfte und misstrauische Seite, die wohl in früheren Erlebnissen ihre Ursprünge hatte. Leeders Name hätte schon öfter neben Joos erscheinen sollen, auch in Bezug zum „grünen Tisch“, zur Pädagogik sowieso. Leeder war der Bescheidenere, er wurde verlassen, er hat den kürzeren gezogen. Jedenfalls empfand und verstand ich es damals so. Er war ohne Gram, nur etwas traurig.

Zur Musik: Diese riesigen Tonbandgeräte mit ihren Drehschaltern, den sich ewig verheddernden Tonbändern, der oft lausigen Tonqualität, der Sucherei nach dem richtigen Stück auf dem Band – meistens musste Fräulein Müller herhalten: „Falsches Band, falsche Seite, falsch geklebt!“ Fräulein Müller also „schlp, schlp, schlp“ raus in „die geheime Welt“, neues Band suchen, neue Klebstreifen, was auch immer, und „schlp schlp schlp“ zurück. „Entschuldige bitte, du hattest doch gesagt, dass du heute den Caido machen willst.“ “Nein, habe ich nicht gesagt.“ Stille. Inzwischen wurde fast ausschliesslich Deutsch gesprochen. An manchen Tagen klappte alles auf Anhieb. Musik an, Qualität gut, alles richtig eingestellt, was für eine Wohltat. Noch heute sehe ich Leeders Hände mit dem Silberring mit dem roten Stein an dem leicht abgespreizten kleinen Finger an der rechten Hand vor mir, wie sie die Tonbänder am riesigen Ungetüm von schwarzem Gerät einfädeln, den Drehschalter mit relativ grossem Kraftaufwand und leichtem Heben der Schulter drehen. Es lag viel Gefühl in dieser Bewegung.

Das Gerücht wurde immer deutlicher: Joos und Züllig würden Leeder besuchen. Sie würden zum Zeitpunkt meines ersten Jahresexamens kommen, zuschauen, anwesend sein, mich beurteilen oder gar verurteilen, jedenfalls mich mit ihren weltberühmten Augen anschauen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich wusste, ich musste dieses Examen ganz allein durchstehen, ohne W. und Fräulein Müller. Sie redete mir gut zu, die Herren sind nett und werden dich schon nicht auffressen; was sie aber trotzdem taten.

Natürlich war ich früh genug da. Die Garderobe eisig, der Vorhang roch bedenklich, alles war wie immer. Ich stand auf dem Rost, zog mich um, schwarze Strumpfhose, schwarzes Tricot, barfuss. Ich ging raus zum Gang, hinein in das Studio: Leere... riesige Stille. Dann mehrere Männerstimmen, Nescafégeruch, Fräulein Müllers Schläppligeräusch, dreimal “Guten Morgen“, die Stimmen waren freundlich und ruhig. Nur Fräulein Müller klang sehr nervös. Sie musste ja die grässliche schwarze Maschine bedienen. Tische standen bereit, Papier und Schreiber, ich kannte die Gesichter, die markante Frisur von Joos von Fotos.

“So...“ sagte Leeder, “dann wollen wir mal“. Ich hatte 24 Etüden zu zeigen - alleine. Nach dem ersten Drittel gab es eine Pause. Ich ging sofort raus, zog mich trocken an und machte gleich wieder weiter. Nach dem zweiten Drittel kotzte ich vor Erschöpfung in den trostlosen Duschraum. Dann der letzte Teil, es war vorbei.

Ich sah kaum mehr etwas, war nicht mehr aufnahmefähig. Die Herren machten mir irgendwelche Komplimente, das spürte ich an der Art, wie sie mit mir redeten, den Inhalt verstand ich nicht. Fräulein Müller umarmte mich zum ersten Mal. Sie hatte so etwas wie Tränen in den blauen Augen. “Das war wunderbar, hab keine Angst, ich bin sicher, du hast bestanden.“ Ich war ihr so dankbar. “Zieh dich um und komm danach in die “geheime Welt“. Mein Gott, dachte ich nur, noch eine Premiere. Ich fror keine Sekunde unter der eiskalten Dusche, zog mich aber sicherheitshalber warm an, ging raus über den Gang und klopfte an die gegenüberliegende Tür.

“Komm nur herein!“ Ich betrat das Allerheiligste, es war eine Art kleine Wohnung, ein Küchenabteil, eine Tür zu einem Bad, eine Treppe rauf, ich schaute mich nicht zu sehr um, ich wollte nicht neugierig erscheinen. Fräulein Müller umarmte mich schon wieder, ihre Augen waren immer noch feucht. Ja, die erste Schweizer Schülerin hatte ihr erstes Examen geschafft. Mir wurde gratuliert, an Leeders Worte kann ich mich nicht erinnern. Wir setzen uns an den kleinen Esstisch zu dritt, die berühmten Herren waren bereits gegangen. Fräulein Müller hatte irgendwann dazwischen gekocht, es gab Königsberger Klopse an einer weissen Sauce, mit weissem Reis auf weissen Tellern. Eigentlich war alles eher beige, die Gläser voll mit Kalkflecken, es gab Wasser und zur Feier etwas Rotwein, ich zitterte beim Anstossen immer noch, eine grosse Wärme breitete sich in meinem Körper aus. “Herr Leeder liebt dieses Essen“ sagte Fräulein Müller. Und Leeder: “Ja, Klopse kochen, das kann sie “.

Rut Ackermann war 1965 die erste Schülerin der neu in der Schweiz ansässigen Sigurd Leeder School of Dance in Herisau. Sie schloss die dreijährige Ausbildung 1968 mit Diplom ab. 1978 besuchte sie nach einem Traum den Weihnachtskurs in Herisau. Leeder engagierte sie vom Fleck weg als Lehrerin an seine Schule, sie unterrichtete während zwei Jahren Technik, Improvisation und Bodenarbeit.

(Siehe auch No. 19 | 2014/2, Seite 15)

 

PDF