Ausgabe

SPIEL REGEL

No. 40 | 2021/2

«Obacht Kultur» N° 40, 2021/2 spielt.

Auftritt: Pablo Walser;
Bildbogen: Karin K. Bühler;
Umschlag: Bernard Tagwerker;
Texte: Frédéric Zwicker, Dominik Schleich und Ingrid Brühwiler, Angélique Kellenberger, Dieter Ringli u.v.m.

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Frischluft

Erinnerung an eine hässliche Schildkröte

von Frédéric Zwicker

Was macht einen Menschen aus? Ich meine, es sei einerseits die genetische Veranlagung, andererseits die Summe aller Erfahrungen und Reize, die im Verlauf seines Lebens auf ihn einwirken. In Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung gelten insbesondere die frühen Jahre als prägend. Nebst der Familie tragen deshalb die Lehrer:innen Verantwortung. An meine denke ich gern zurück – obschon ich vorlaut war und oft bestraft werden musste. Es gibt nur eine Ausnahme. Mein Lehrer von der vierten bis in die sechste Klasse war ein Relikt kurz vor der Rente. Das schwindende gesellschaftliche Ansehen seines Berufsstands kompensierte er im Klassenzimmer, indem er die Kleinen noch etwas kleiner machte. Ich erinnere mich beispielsweise, wie der Türke Manuel nach vorn zum Lehrerpult ging, um seine Mathe-Lösungen kontrollieren zu lassen. «Wäh, du stinkst! Geh an deinen Platz!», rief der Lehrer. Und zur Klasse hin: «Macht die Fenster auf!» In den Ablagefächern unter dem Pult eines Schulfreunds, der übergewichtig war und nicht der schnellste Denker, herrschte ein stetes Chaos. Gelegentlich baute sich der Lehrer vor ihm auf, hob den Tisch an der vorderen Kante an und schüttelte, bis die Blätter, Mäppchen und Stifte auf den Boden purzelten. Der Junge musste sich hinknien und aufräumen, während der Unterricht für uns andere weiterging. Manchmal, wenn man gerade schwatzte oder spickte, stand er plötzlich hinter einem. Man ahnte es, und ein eisiger Schreck fuhr in die Glieder, wenn es in der Klasse unnatürlich still wurde und einem sein säuerlicher Geruch in die Nase stieg. Dann hoffte man auf Kopfnüsse, weil die weniger schmerzhaft und entwürdigend waren, als wenn er mit Daumen und Zeigefinger den Haaransatz im Nacken griff und ruckartig daran riss. Mir half beim Widerstand ein Gedankenspiel. Einmal fiel mir auf, dass der Mann, dessen Kinn über seinen herunterhängenden Hals direkt im Hemdkragen verschwand, aussah wie eine hässliche Schildkröte, wenn ich die schwindende Haarpracht gedanklich bis auf die Glatze rasierte. Fortan sass ich oft mit entrücktem Grinsen in der Schulbank. Der Höhepunkt der Rache fand alljährlich an Schulsilvester statt. Ein Grüppchen geknechteter Schüler stattete ihm dann einen Besuch ab. Wir schmückten Haus und Garten mit Klopapier, schaufelten Schnee vor seine Eingangstür, schmierten Türgriffe mit Zahnpasta ein, zündeten Feuerwerk im Briefkasten und warfen Schneebälle gegen die Fenster. In der Schule spielte er seine sadistischen Spielchen mit uns. Aber in einer Nacht im Jahr bestimmten wir die Regeln. Seit jenen Nächten sind Jahrzehnte vergangen. Heute denke ich ohne persönlichen Groll an ihn zurück. Gelernt hat man schon was, und diesen Text verdanke ich ihm auch. Vielleicht wäre es trotzdem schön, denke ich, die alte Truppe wieder einmal zu versammeln und seinem Haus an Schulsilvester einen Nostalgie-Besuch abzustatten. Vielleicht würde es dem alten Herrn gefallen, wenn er wüsste, dass er dem einen oder anderen in Erinnerung geblieben ist.

Frédéric Zwicker, *1983, lebt als Autor und Musiker in Rapperswil-Jona. Seine Romane «Hier können Sie im Kreis gehen» und «Radost» erschienen 2016 und 2020. Bei «Hekto Super» und «Knuts Koffer» ist er Komponist, Texter, Gitarrist und Sänger. Seine zeitweilige Arbeitsklause liegt in Bühler.

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