Ausgabe

STIMMIG

No. 35 | 2019/3

«Obacht Kultur» N° 35, 2019/3 ertönt vielstimmig.

Auftritt: Beatrice Dörig;
Bildbogen: Lika Nüssli und Gabriela Krapf;
Texte: Guy Krneta, Christian Zehnder, Ludwig Hasler u.v.m.

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Gedächtnis

Die Individualität des Naturjodels

von Marc-Antoine Camp

Was ist eigentlich der Naturjodel? Was sagt uns diese rund um den Alpstein als Ruggusseli, Zäuerli oder Johle bekannte und auch anderswo lebendige Gesangstradition? der Versuch einer Antwort.

Der Naturjodel wurde schon mit manch einfallsreichen, in wissenschaftlichen Publikationen ausgebreiteten Denkmodellen zu deuten versucht. In den Jahrzehnten vor und nach 1900 wurde er evolutionsgeschichtlich gehört, als Weiterentwicklung eines menschlichen «Urschreis» und als Vorform eigentlicher Musik (Robert Lach). Eine andere Auffassung sah das Jodeln als Ausdruck einer Gefühlswallung, bei der sich die Stimme überschlägt (Georg Simmel). Der für den Jodel charakteristische Wechsel von Brust- und Kopfregister, so eine weitere Idee, widerspiegle das Auf und Ab der Gebirgswelt (Alfred Leonz Gassmann).

«Um diese ‹Natur-Bühnen› zu erreichen, müssen zuweilen Wege verlassen, Hügel erklommen oder Wälder durchquert werden.»

Das Projekt «Jodel Solo»

Eine Deutung des Naturjodels bietet auch das Projekt «Jodel Solo» des Roothuus Gonten an, das 2014/2015 und 2018 durchgeführt wurde und aufgrund des Erfolgs 2020 erneut geplant ist. Es handelt sich um eine aussergewöhnliche Konzertreihe, der ebenfalls ein Denkmodell zugrunde liegt. Es ist ein von Noldi Alder entwickeltes, wunderbar knappes Konzept: Jodlerinnen und Jodler treten solistisch an einzigartigen Plätzen im Freien in Appenzell Aus­serrhoden, Appenzell Innerrhoden und im Toggenburg auf. Um diese «Natur-Bühnen» zu erreichen, müssen zuweilen Wege verlassen, Hügel erklommen oder Wälder durchquert werden. Bei jedem Konzert treten zwei Personen auf, die jeweils 15 Minuten alleine singen. Die Auftritte finden zu Zeiten statt, an denen traditionell solistisch gejodelt wird: zur Melkzeit um 6 Uhr morgens, zum Kirchgang um 9 Uhr morgens und zum Alpsegen um 9 Uhr abends.

Über dreissig Jodlerinnen und Jodler beteiligten sich 2018 an «Jodel Solo». Die Konzerte besuchten bis zu fünfzig Personen. Es verwundert aber nicht, dass aufgrund ihrer Durchführung bei jeder Witterung, des aufwendigen Zugangs zu den «Bühnen» und der ungewöhnlichen Auftrittszeit bei einzelnen Konzerten die Singenden unter sich blieben. Dies wurde in Kauf genommen, womit die eigentlichen Ziele von «Jodel Solo» angesprochen sind. Noldi Alder hat sie folgendermassen formuliert: «Wir wollen den Solojodel wieder in den Alltag zurückholen!» und  «Wir wollen dem Solojodel wieder eine spezielle Bühne bieten!»

Zwischen Alltags- und Konzertgesang

Diese beiden Sätze stellen im ersten Moment allerdings einen Widerspruch dar. Es soll beispielsweise die Verwendung des Jodel-Löcklers beim Eintreiben von Kühen gefördert werden; zugleich müsste dieser Rufgesang als Konzert funktionieren, für das seit dem 19. Jahrhundert häufig eine vom Alltag entkoppelte, kontemplative Hörhaltung postuliert wird. Doch gerade beides beansprucht «Jodel Solo»: Einerseits soll der Solojodel stärker im Alltag – sei dieser landwirtschaftlich oder nicht – ein­gebunden werden, anderseits durch seine künstlerische Darbietung grössere Wertschätzung erhalten. Vermittelt werden bei «Jodel Solo» Alltag und Konzert durch die «speziellen Bühnen», die das Konzert in der voralpinen Lebenswelt stattfinden lässt, und durch die Einsicht, dass ein Alltagsgesang wie ein Löckler nicht allein von seiner Funktion bestimmt ist, sondern von Individuen klanglich gestaltet wird.

Erfahrene Jodlerinnen und Jodler sind fähig, eine grosse Zahl an Naturjodelmelodien zu memorisieren und zu unterscheiden.

Und diese Gestaltungen sind äusserst vielfältig. Die Stimme, das körpereigene Musikinstrument eines Menschen, ist bei jedem Individuum etwas anders, verweigert sich einer einfachen klanglichen Klassifizierung und lässt sich durch Worte nur mit Mühe beschreiben. Indem «Jodel Solo» diese Individualität der Stimmen ins Zentrum rückt, stellt es jene regionalen Unterscheidungen der Naturjodelvarianten in den Hintergrund, die in Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und dem Toggenburg zuweilen betont werden. In Szene tritt die Vielfalt der Jodel, die in der Regel mündlich tradiert werden. Erfahrene Jodlerinnen und Jodler sind fähig, eine grosse Zahl an Naturjodelmelodien zu memorisieren und zu unterscheiden. Ein laufendes, vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Projekt der Hochschule Luzern (Raymond Ammann, Andrea Kammermann, Yannick Wey) mit dem Roothuus Gonten erforscht zurzeit, wie Jodlerinnen und Jodler ihren Melodienschatz imaginär ordnen und damit einzelne Naturjodelmelodien jederzeit abrufen können.

Laiensingende im Mittelpunkt

Das Roothuus Gonten, das Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, konnte bei den bisherigen Durchführungen von «Jodel Solo» Sängerinnen und Sänger aus allen drei Regionen für Auftritte gewinnen. Indem das Projekt Laien in den Mittelpunkt stellt, die als Solistinnen und Solisten keine Erfahrung haben, kann es als wegweisendes Projekt der «Kulturellen Teilhabe» verstanden werden. Dieses Thema, das zum Teil die «Vermittlung» ablöste, ist seit 2016 ein Pfeiler der Kulturpolitik des Bundes. Auf die Bedeutung der «Kulturellen Teilhabe» verweisen Aussagen derjenigen Sängerinnen und Sänger, die bei «Jodel Solo» für sich und ohne Konzertpublikum jodelten. Für sie waren die Auftritte ein unerwartetes Erlebnis. Ihnen sei bewusst geworden, wie wichtig sie als Individuen für die Tradierung des Naturjodels sind.

Die eingangs erwähnten Ursprungshypothesen des Naturjodels wurden schon vor Jahrzehnten kritisch hinterfragt. Wenn wir den Naturjodel aber doch gerne als «urchig» bezeichnen und durch die wortlosen Klänge emotional berührt werden, dann hat das wenig mit evolutionsgeschichtlicher «Ursprünglichkeit» zu tun. Vielmehr drückt sich damit die Faszination für den Naturjodel aus, für dessen individuelle Vielfalt, berührende Unmittelbarkeit und starken Lebensbezug.

Text: Marc-Antoine Camp und Barbara Betschart
Bilder: Appenzell.ch; Roothuus Gonten

Marc-Antoine Camp, geboren 1972, ist Mitglied des Stiftungsrats des Roothuus Gonten – Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik. Er ist als Forscher im Bereich Musikpädagogik und Ethnomusikologie an der Hochschule Luzern tätig.

Barbara Betschart, geboren 1967, ist Geschäftsführerin des Roothuus Gonten – Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, Musikpädagogin und als Geigerin in Ensembles der klassischen und der Volksmusik aktiv. Zudem ist sie neu künstlerische Co-Leiterin des Festivals Alpentöne.

 

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