Ausgabe

STIMMIG

No. 35 | 2019/3

«Obacht Kultur» N° 35, 2019/3 ertönt vielstimmig.

Auftritt: Beatrice Dörig;
Bildbogen: Lika Nüssli und Gabriela Krapf;
Texte: Guy Krneta, Christian Zehnder, Ludwig Hasler u.v.m.

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Was singt denn da?

von Ludwig Hasler

Singen ist das einzig Gesunde, das ich treibe. Das sagte ich in all den Jahren, als ich sonst ausschliesslich arbeitete und kettenrauchte. Es war ein Scherz (weil ich ja nie singe, bloss um fit zu bleiben) und gleichzeitig Ernst – weil ordentlich in Form sein muss, wer richtig singen will. Ein Maler kann körperlich ein Wrack sein und fabelhafte Bilder hinzaubern. Manche Autorin schreibt am besten, wenn sie schlecht drauf ist. Ein Cellist mit Grippe hält einen Konzertabend durch. Sogar eine Schauspielerin in mieser Verfassung schafft eine Aufführung.

Der Sänger nicht. Unter allen Künsten ist Gesang die körperlichste. Meine Stimme sitzt im Körper, und der benimmt sich eigenwilliger als jedes Instrument. Ich stelle mir zwar beim Einsingen gern vor: Mein Körper ist wie mein Cello, auch ihn muss ich «stimmen», in Stimmung bringen, solid erden, aufrichten, der Atem muss ruhig werden, tief und lang, damit die Töne fliessen, rund und farbig. Erst dann können wir zusammen loslegen, ich und mein Körper, nur wird das vertrackter als mit dem Cello. Weil der Körper viel mehr ist als ein Instrument. Und ich viel weniger bin als sein Meister. Im besten Fall singt es – nicht ich.

Hat meine Stimme mehr Ahnung von mir als ich selbst? Es kommt ja vor, dass wir beim Singen, wie man sagt, «die Seele auf der Zunge» haben. Die Seele, nicht nur nach Heraklit «unergründlich», erinnert sich an Vorgeschichten, die in mir drin sind, aber mein Bewusstsein selten erreichen, schon gar nicht mit Worten. Im Gesang macht sich die Seele Luft, sie bricht aus, mal jubelnd wie im Juchzer, mal trauernd wie im Wehklagen. Dabei drückt sie mehr aus als meine akute Gefühlslage. Singe ich zum Beispiel «Luegid vo Bärg und Tal», singt die ganze voralpine Melancholie und Lebensfreude mit, die in mir weiter schlummert, auch wenn ich längst urban unterwegs bin. Ähnlich weckt etwa Bachs Kantate «Ich armer Mensch, ich Sündenknecht» das alte barocke Selbstverständnis, das mir noch in den Knochen sitzt, auch wenn ich es im Kopf längst verabschiedet habe. Gesang befreit, wo er nicht mir gehört, wo er passiert, genitum non factum, gezeugt, nicht gemacht. Als Sänger bin ich eher Medium als Schöpfer.

Paradox? Singend bin ich nah bei mir – und selbstverloren weit weg. Am weitesten mit Musik, die in metaphysische Regionen reicht, etwa mit Mozarts Requiem oder mit Appenzeller Zäuerli. Da gehen wir nicht auf Exkursion in innere Tiefenschichten. Hier führt Gesang hinaus in symbolische Ordnungen, worin ich erst meinen Ort, einen Sinn finde. Singe ich mit im Requiem, bin ich Teil im kosmischen Drama von Leben und Tod und Auferstehung. Höre ich an Silvester die Chläuse singen, so höre ich nicht, wie sie grad drauf sind, nein, ihre Töne errichten gleichsam die Weltordnung neu – die Welt wird Harmonie, ich bin zu Hause. Typisch Mensch. Als «exzentrisches» Wesen kommt er in Form, wo er sich überschreitet. Passiert beim Singen von selbst. Da mache ich nicht auf Ich, da bin ich ganz Stimme – für die sinnliche Gegenwart von Sinn.

Ludwig Hasler, 1944 geboren, ist Philosoph und Publizist und lebt in Zollikon.

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