Ausgabe

Wege und Verbindungen

No. 43 | 2022/2

«Obacht Kultur» N° 43, 2022/2 ist auf dem Weg.

Auftritt: Emanuel Geisser;
Umschlag: Lük Popp;
Bildbogen: Harlis Schweizer-Hadjidj;
Texte: Sibylle Berg, Sandra Bühler und Christian Wagner, Florian Eugster u.v.m.

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Thema

Auf Wegen weg und wieder da

von Ursula Badrutt, Andreas Stock, Isabelle Chappuis, Hanspeter Spörri, Kristin Schmid, Barbara Auer

Wege sind Verbindungen, die durchgehend oder auch unterbrochen sein können. Verbindungen wiederum sind Wege zwischen zwei und mehr Punkten. Sie definieren eine Strecke oder einen Raum, der sich als geografisch erweisen kann, als urban oder weitschweifend durch die Landschaft gezogen, aber auch als soziologisch, biografisch, zeitlich, imaginär, digital, illusionär, visionär. Oder Kombinationen daraus. Die Vielschichtigkeit, was Wege und Verbindungen sein und bilden können, verunmöglicht den Überblick und lässt immer nur einen fragmentierten Blick zu. Das kann zum Labyrinth und Verwirrspiel werden. Wege und Verbindungen sind auch Gegenstand jener Bewegung, die als «Situationistische Internationale» Geschichte geschrieben hat und bis heute weiterwirkt, unter anderem in der Bedeutung der Psychogeografie: Für ein fruchtbares Erkunden einer Stadt oder einer Situation braucht es das ziellose Umherschweifen. Wir versuchen dies hier ein Stück weit nachzubauen, indem wir Einblicke in das Wegnetz von Appenzell Ausserrhoden samt Anschlusspunkten in weitere Dimensionen geben. Die Verweise auf andere Stellen in dieser Ausgabe verdeutlichen: Wir sind linear, sprunghaft, schlängelnd, schlendernd, rückwärts, metaphorisch, überfliegend, inkonsequent, den einzelnen Subjekten und dem Zufall vertrauend unterwegs – die Gangart beeinflusst die Wahrnehmung. Auch beim Lesen. 

«Bei uns geht es täglich um Verbindungen», sagt Isabelle Coray, die Leiterin der Abteilung Mobilität und Support im Tiefbauamt von Appenzell Ausserrhoden. Sie unterstützt mit ihren Mitarbeitenden die verschiedensten Bereiche wie Strassenprojekte, Fuss- und Wanderwege, Flurgenossenschaften, Brücken, Seilbahnen und Skilifte. «Verbindungen geben zu diskutieren», sagt Isabelle Coray, «denn die Ansprüche und Vorstellungen sind sehr unterschiedlich». Je nachdem, ob einem eine Verbindung selber diene oder nicht, verändere sich die Haltung dazu. Auch die Bedürfnissean Verbindungen wandeln sich. Ein Beispiel dafür ist die Entwicklung bei den Radwegen, die sich durch die Zunahme an Velofahrenden und E-Bikes geändert hat. Und wenn 2023 das neue eidgenössische Veloweggesetz in Kraft tritt, wird es erneut Auswirkungen auf die Radverbindungen haben. Die Frage, wie sich die Bedürfnisse an die Mobilität zukünftig wandeln werden, sei einer der zentralen Punkte bei jedem Projekt. Aktuell ist Isabelle Coray mit verschiedenen grossen Vorhaben beschäftigt. Eines davon ist die Mittellandstrasse, die von Rheineck nach Waldstatt führt. Bei Wolfhalden soll die dritte Fahrspur aufgehoben und durch neue Rad- und Gehwege besser genutzt werden. Verknüpft ist damit eine neue Strassengestaltung, die auch die Bepflanzung mit einheimischen Bäumen umfasst. Solche Projekte sind sehr komplex, weil neben Gemeinden, Nachbarschaften und Strassennutzenden stets weitere Zusammenhänge oder andere Verbindungen wie Wasserläufe oder Gewässerschutzbestimmungen zu beachten sind.

Morddrohungen und Sabotageakte gab es, als Roman Signer 1989 für die «Aktion mit einer Zündschnur» miteinander verbundene Lunten auf das Bahntrassee der Appenzeller Bahnen legte. Sie brauchten 35 Tage, um die rund zwanzig Kilometer von Appenzell nach St. Gallen brennend zurückzulegen. Der Künstler wollte die Wegstrecke – die er, wie er selbst ausrechnete, damals bereits 7000 Mal gefahren war – nochmals und ganz anders erleben. Heute brauchen die Appenzeller Bahnen für dieselbe und meistbefahrene Strecke knapp vierzig Minuten. Das ganze Streckennetz der Appenzeller Bahnen umfasst 114 Kilometer, davon entfallen rund 20 Kilometer auf die Verbindung zwischen Frauenfeld und Wil, die seit der Fusion 2021 mit der Frauenfeld-Wil-Bahn zum Streckennetz der Appenzeller Bahnen gehört. Den Appenzellern und Appenzellerinnen liegt ihre Regionalbahn jedenfalls am Herzen: Nebst Kunstaktionen erhitzen auch aktuellere Bahnprojekte wie der Tunnel in Teufen die Gemüter. Auch die politische Entscheidung, die drei reizvollen, aber nicht kostendeckenden Zahnradbahnen zum und vom Bodensee oder ins Rheintal vorläufig beizubehalten, wurde von den meisten mit Erleichterung aufgenommen. In den Appenzeller Bahnen – ob diese sich nun durch den St. Galler Marktplatz klingeln, in den Speicherer Kurven kreischen oder vom Rotorwind bei Wasserauen aus den Schienen gehoben werden – verbinden sich die verschiedenen Ostschweizer Mentalitäten vorübergehend zu einer einzigen.

Wege sind Verbindungen. Verbindungen zwischen Menschen, zwischen Häusern. «Der Mensch wird am Du zum Ich», sagte der Religionsphilosoph Martin Buber. Doch wer über Wege recherchiert, stösst bald auf das Wegrecht – und auf Generationen überdauernde Konflikte. «Die Gesetzgebung sollte dafür sorgen, dass alle das Recht haben, zu ihrem Haus zu gehen und zu fahren», sagt ein Kenner der Materie, der nicht namentlich zitiert werden will. «Stattdessen aber sorgt sie bei fehlenden oder ungenügend definierten Wegrechten für rechtliche Auseinandersetzungen und endlosen Streit unter Nachbarn». Ein grosses Thema, eine politische, gesellschaftliche und juristische Materie. Und eine psychologische dazu: Grundstücke sind Territorien, die manchmal unerbittlich verteidigt werden. Wie sagt es Schiller in seinem «Wilhelm Tell»: «Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt». PS: Der böse Nachbar, die böse Nachbarin ist selbstverständlich immer der oder die andere.

Wanderwege sind langlebig. Verändert werden sie selten. Walter Graf aus Heiden war 18 Jahre im Vorstand des Vereins «Appenzell Ausserrhoder Wanderwege» und kennt die Ausnahmen: Mal musste der Weg leicht verlegt werden, weil ein Stall gebaut wurde, ein andermal, weil er zwischen Haus und Garten durchführte, oder weil ein Panorama- und ein Wanderweg verbunden wurden. Für letzteres hat die Gemeinde Rehetobel den «Wanderbär» erhalten: Seit zwei Jahren zeichnet der Verein «Appenzell Ausserrhoder Wanderwege» damit gelungene Routenverlegungen, die Sanierung schwieriger Stellen oder andere gemeisterte Herausforderungen im Wegenetz aus. In Rehetobel wurde damit auch gewürdigt, dass der Wanderweg von einem Stück Teerstrasse ins Gelände verlegt wurde. Denn Wanderwege sollen wenn möglich auf Naturwegen verlaufen. Walter Graf hat sie alle begangen. Immer mit Schrauben und Briden, Schraubenzieher, Schraubenschlüssel und natürlich Ersatzschildern im Rucksack – falls eins der typischen gelben Schilder fehlt, ausgeblichen ist oder schief am Hag hängt. Grundsätzlich sollten die zuständigen Gemeinden die Wanderwege einmal jährlich in beide Richtungen begehen und kontrollieren lassen: Ist ein Geländer kaputt, der Hang abgerutscht oder ein Busch zu weit in den Pfad gewachsen? Ist an jeder Verzweigung eine Tafel? Dort steht oft eine Zeit bis zum Ziel. Sie folgt einem festen Schlüssel: Im flachen Gelände wird für vier Kilometer eine Stunde gerechnet, pro 100 Höhenmeter ein zusätzlicher Kilometer und für 300 Höhenmeter bergab ebenfalls ein zusätzlicher Kilometer. Wer schneller ist, ist sportlich, ehrgeizig oder kann sich schlicht und einfach sagen: «I mag no».

Ja, ich hätte den Peter Morger gerne dabei gehabt. Er hätte seinen Weg gesehen, den viel begangenen, oft erwähnten Weg, er hätte ihn bei diesem Spaziergang wieder betrachten können. Den Hügel hinauf, hinunter zum Friedhof, zur Kapelle, am Weihnachtstag. Manch einer, hiess es, war froh, wenn er wieder weg war. Ich hätte mich mit ihm verstanden. Augenblicklich. So etwas gibt es. Dazu ist es nicht gekommen. Auch er hätte sie entdeckt, sofort, die Bodyguards um den Magistrat herum. Wir hätten uns angeschaut, hätten erstaunt gelacht. So etwas, hier? Er hätte sie nicht fotografiert. Wir wären weitergegangen, mitgelaufen im Tross, vorne. Die Natur, die Landschaft, die Bäume hätte er fotografiert. Ausgesuchte Einstellungen, Winterlandschaft, so nie gesehen. Sein spezieller Blick. Dabei wäre es nicht geblieben. Auch diese Fotos wären in die Dunkelkammer, eine ehemalige Waschküche und Räucherkammer, gekommen. Er hätte sie bearbeitet und verfremdet, hätte eine versteckte Wirklichkeit erzeugen und sichtbar machen wollen. Manchmal wäre es gelungen. Und hie und da wären Kunstwerke daraus geworden. Das hätte ihn gefreut. Wir hätten uns dann ein Stück weit von der Gruppe der Spazierenden gelöst, und er hätte bedauert, er habe seinen grossen Walser-Essay nicht geschrieben, nicht schreiben können. Und leise hätte er gesagt, er habe sich manchmal vorgestellt, Robert Walser stehe vor seinen Bildern, seinen bearbeiteten Fotos. Und dann hätte er angefügt, die hätten dem Walser womöglich ganz gut gefallen.

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