HAUPTAUSGABE

No. 22 | 2015/2
Ausgabe

Wir erben - wir Erben

SONDERAUSGABE 2015/2

«Obacht Kultur» N° 22, 2015/2 die Sondernummer zur <link www.kulturlandsgemeinde.ch/zweitausend15 - external-link-new-window "Opens external link in new window">Kulturlandsgemeinde 2015</link>, bei der es vielschichtig ums «Erben und Vererben» ging und die mit dem «Erbprozent Kultur» der Kultur und zukünftigen Generationen ein besonderes Vermächtnis

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«Obacht Kultur» N° 22, 2015/2 führt zweifach ins Appenzeller Vorderland. Zum einen im Hauptheft auf drei Streifzügen über Hügel und Eggen zu verschiedenen Aussichtspunkten, die immer wieder den Blick auf den Bodensee öffnen. Zum anderen in der Sonderausgabe zur Kulturlandsgemeinde 2015 nach Heiden in den Kursaal, die anfangs Mai während zwei Tagen auf vielschichtige und kreative Weise dem brennenden Thema «Erben und Vererben» auf der Spur war. Und die mit der Lancierung der Stiftung «Erbprozent Kultur» auch einen weiten Horizont ins Auge fasst – die Zeit der kommenden Generationen. Wie immer in «Obacht Kultur» haben viele Mitwirkende zu einer reichen Ausbeute von Text- und Bildbeiträgen beigetragen: Christian Hörler im Aufritt; Erika Kronabitter und Walter Züst in der Frischluft; Marcel Elsener im Radar; Rolf Graf im Thematext; Verena Schoch im Bildteil; Fredi M. Murer mit einer offenherzigen Sonntagsrede; Julia Sutter und Laura Vogt mit niedergeschriebenen Erbgeschichten; Anita Zimmermann mit einem gespritzten Stammbaum; Kurt Lüscher und Franziska Schürch mit vertiefenden Überlegungen zum Thema Erbschaften wie auch Peter Surber mit der Sendschrift, die sieben Erbstücken aus den Debatten zusammenfasst. Weiterführende Texte, Bild- und Tonbeiträge.

HAUPTAUSGABE

No. 22 | 2015/2

Web-Mehrwert

Ergänzende Inhalte zu
der gedruckten Ausgabe
Bildstrecke

«Der Kunststammbaum»

Anita Zimmermann, 2015
Bildstrecke

«Erzählte Erbschaften»

Julia Sutter und Laura Vogt, 2015
Text

«Sonntagsrede»

Fredi M. Murer, 2015

Sonntagsrede von Fredi M. Murer

Verwandt mit Tannenzapfen und Milchgeissen

Meine lieben Kulturlandsgemeinde-Frauen und -Mannen. Was ich Ihnen hier erzähle, ist nichts Neues und nichts, was Sie nicht schon wüssten; ich erzähle es Ihnen höchstens in einer andern Reihenfolge. Oder um es etwas vornehmer bzw. biblischer auszudrücken: "Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne." Wenn ich meine täglichen Zeitungen lese, denke ich das manchmal auch. Das wirklich Neue beschränkt sich in der Regel auf zwei bis fünf Prozent. Der Rest ist Schnee von gestern und vorgestern. Der amerikanische Linguist Noam Chomsky hat dieses Phänomen in den 1970er Jahren mit einer träfen Wortschöpfung, die man leider nicht auf Deutsch übersetzen kann, auf den kürzesten Nenner gebracht: "overnewsed and underinformed". Aber unseren Zeitungen deswegen einen Vorwurf zu machen, wäre schon deswegen unfair, weil diese nur dann eine Überlebenschance haben, wenn sie die primären Bedürfnisse ihrer Leserschaft befriedigen. Was wiederum auf eindrückliche Weise die Langlebigkeit unseres Erbgutes unter Beweis stellt. Denn wenn wir unseren Erforschern der Menschheitsgeschichte Glauben schenken können, sollen schon unsere frühesten Ururahnen ihr Winseln, Gurren und Knurren ausschliesslich benützt haben, um Klatsch und Tratsch zu verbreiten. Überhaupt scheint unser Erbgut ziemlich lange Wurzeln zu haben. In meiner NZZ vom vergangenen 20. Dezember habe ich in einem Essay des Biochemikers Gottfried Schatz mit dem Titel "Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen - Über die Suche nach dem Sinn des Lebens" den lapidaren Satz gelesen: "Sicher ist nur, dass alle heutigen Lebewesen von einer einzigen Zelle abstammen. Und dass wir Menschen an diesem wundersamen Baum des Lebens nur ein später Zweig sind." Das gibt einem doch schon mal ein ziemlich heimeliges Gefühl, mit all den Moosflechten, Tannenzapfen und Milchgeissen, die es in dieser Gegend gibt, entfernt verwandt zu sein. Aber wir wollen es nicht übertreiben und blenden (statt 3500) nur mal zwei Millionen Jahre zurück, als die ersten menschenähnlichen Tiere die Bühne betraten. Eine Spezies, welche von ihren Nachfahren, dem "Homo sapiens", rückblickend mit dem Namen "Homo erectus" geehrt wurde, wobei sich Letzteres nur auf den aufrechten Gang bezieht. Diese Homo-erectus- Familien stachen aber über zahllose Generationen hinweg nicht aus der Vielzahl der übrigen Tiere heraus, mit denen sie ihren Lebensraum teilten. Wäre mein ethnologischer Cinemascope-Dokumentarfilm, den ich vor zwei Millionen Jahren in Ostafrika gedreht habe, nicht verschollen, sähen Sie darin Gruppen von Menschen, die äusserlich gewisse Ähnlichkeiten mit uns haben. 3 OBACHT SONDERAUSGABE Besorgte Mütter, die ihre Babys auf dem Arm tragen. Kinder, die im Morast spielen. Von ausserhalb des Bildes würden Sie Geräusche von Steinen hören, die aufeinandergeschlagen werden. Sie stammen von einem ernst dreinblickenden jungen Mann, der sich in der Kunst der Werkzeugherstellung übt. Neben ihm streiten sich zwei junge Männer knurrend und mit gefletschten Zähnen um einen besonders fein gearbeiteten Feuerstein, aber im Grunde geht es dabei um einen weiteren Kampf um die Vormachtstellung in der Gruppe. Diese filmischen Bilder habe ich dem Buch "Eine kurze Geschichte der Menschheit" des jungen israelischen Professors für Geschichte Yuval Noah Harari entnommen, der darin auf wunderbar anschauliche Weise schildert, wie die prähistorischen Menschen unauffällige Tiere waren, die genauso viel oder wenig Einfluss auf ihre Umwelt hatten wie Gorillas, Libellen oder Quallen. - Und niemand, schon gar nicht die Menschen selbst, konnten ahnen, dass ihre Nachfahren eines Tages über den Mond spazieren, Atome spalten, das Genom entschlüsseln oder an einer Kulturlandsgemeinde in Heiden im Publikum sitzen und stirnrunzelnd einem Amateur-Anthropologen zuhören würden. Ob es uns gefällt oder nicht, solange niemand das Gegenteil beweist, wird es wohl so gewesen sein, dass vor ca. sechs Millionen Jährchen eine Äffin zwei Töchter zur Welt gebracht hat. Eine der beiden wurde die Urahnin aller Schimpansen und die andere unsere Urururgrossmutter. Was jedoch nichts daran ändert, dass wir so oder so aus der "krawalligen" Familie der Menschenaffen hervorgingen. Im Laufe der Zeit haben die Nachfahren unserer Urururgrossmutter damit begonnen, ihre wortähnlichen Laute in lautmalerische Worte umzuwandeln, und ihre Kinder und Kindeskinder haben sie nachgeäfft. Dieses Palavern erstreckte sich vermutlich damals schon von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und nicht nur auf "20 Minuten", was die gleichnamige Farbzeitung als noch "gratiser " erscheinen lässt. Eigentlich will ich damit nur sagen, dass es ohne Sprache uns Menschen nicht gäbe. Und wir unsere Existenz jenem magischen Moment verdanken, als "Lucy" (wohnhaft gewesen im Afar-Dreieck vor 3,2 Millionen Jahren) dem Sohn des Erzrivalen ihres Vaters von der Nebenhöhle in lautmalerischem Alt-Äthiopisch zum ersten Mal ins Ohr geflüstert hat: "Ich liebe dich." Und diesen magischen Moment wird der wortgewaltige Autor, der unter dem Pseudonym "Johannes" in die Literatur- und Religionsgeschichte eingegangen ist, wohl auch gemeint haben, als er vor erst 2000 Jahren im vierten Buch des Neuen Testaments seine Version der Schöpfungsgeschichte mit dem Satz begann: "Am Anfang war das Wort." OBACHT SONDERAUSGABE 4 Dank diesem Satz (und wohl auch wegen des zweiten) wurde seine wunderbare Erzählung später in alle nur erdenklichen Sprachen übersetzt und unendlich viele Male weitererzählt. Tendenz eher steigend. - Unser offensichtlich genetisch bedingtes Bedürfnis, immer und immer wieder die gleiche Geschichte hören zu wollen, ist uns buchstäblich in die Wiege gelegt worden. Wehe, Sie erzählen Ihrem Kind oder Enkelchen zur Abwechslung mal die Geschichte von "Schneewittchen und den sieben Riesen" oder aus Zeitnot "Der Wolf und die zwei Geissli". Der Skandal ist vorprogrammiert. Kinder dulden da keine faulen Kompromisse oder künstlerischen Freiheiten. Sie wollen das überlieferte Erbe an Märchen-, Fabeln-, Liebes- und Mordgeschichten immer und immer wieder in der genau gleichen Weise und Reihenfolge hören. Die triviale Spätfolge dieses archaischen Bedürfnisses zeigt sich am augenfälligsten beim "Reinziehen" des obligaten Fernsehkrimis am Sonntagabend. Wehe, der "Tatort" würde mit dem Mordgeständnis des Täters beginnen und mit seinem Freispruch mangels Beweisen enden. Der Skandal wäre ebenso vorprogrammiert. Auch wir Erwachsenen dulden da keine dramaturgischen Tricks und Spielchen der künstlerisch ambitionierten Regisseure und Drehbuchautorinnen. Es war für uns Tatortsüchtige schon gewöhnungsbedürftig genug, dass aus Gründen der Gleichberechtigung fünfzig Prozent der Täter Täterinnen sein müssen. Kindern Märchen zu erzählen - auch Schauermärchen - und am Sonntagabend den "Tatort" zu schauen, sind nur zwei von vielen Ritualen, die wir als sinnstiftend empfinden. Und Rituale entheiligt man nicht ungestraft. Als Märchenzuhörer hatte ich immer am liebsten den letzten Satz: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch." Vielleicht linderte mir dieser Ritualsatz meine tiefsitzende Angst etwas, meine Grossmutter und meine Eltern könnten nicht unsterblich sein. Übrigens enden aus demselben Grund auch alle erfolgreichen Hollywood-Filme mit einem unsterblichen Happy End. So oder so: Was uns zu Lebzeiten Trost und Geborgenheit spendet, sind sich immer und immer wiederholende Rituale. Meine lieben Erbinnen und Erbberechtigten, im Wissen, dass schon zum sechsten oder siebten Mal eine Kulturlandsgemeinde-Rede gehalten wird und ich somit selber Mitverursacher eines Rituals bin, bitte ich Sie schon jetzt um Freispruch mangels Beweisen, falls meine Rede "tatortgerecht gut" statt "märchenhaft böse" enden sollte. Aber nach weniger als zehn Minuten Redezeit weiss ich selber noch nicht, wohin die Reise geht, denn auch beim Schreiben von Reden kommt es darauf an, in welcher Reihenfolge einem die Wörter seiner erblich vorbelasteten Muttersprache in den Sinn kommen. 5 OBACHT SONDERAUSGABE Aber was heisst hier "Muttersprache"? Wie man hört, rede ich gerade Hochoder zumindest Schriftdeutsch, obwohl meine Mutter weder eine Hoch- noch eine Schriftdeutsche war, sondern eine waschechte Nidwaldnerin, die (wie mein Vater und ich übrigens auch) unweit vom Rütli und dem Schillerstein zur Welt gekommen ist. Ich will damit sagen, dass Reden und Schreiben für uns Deutschschweizer zwei verschiedene Paar Schuhe sind - sozusagen Bergschuhe und Kneippsandalen. Das Gehen mit den einen lernen wir im Elternhaus privat und das Stolpern mit den andern im Schulhaus beim Staat. Das heisst, wenn wir reden, zehren wir von unserem alemannischen Spracherbe, und wenn wir schreiben, vom germanischen. Wer in der Deutschschweiz zur Welt kommt, hat das Glück, in zwei - oder allenfalls zwischen zwei - Sprachkulturen aufzuwachsen. Auf dem erwähnten obeliskartigen Felsen am Fusse der Rütliwiese steht übrigens mit goldenen Lettern geschrieben: "Dem Sänger Tells - F. Schiller - Die Urkantone 1859." Anlässlich der Verleihung des Grossen Schillerpreises an Max Frisch zitierte dieser in seiner berühmten Rede "Die Schweiz als Heimat" einleitend den Duden: "Die Heimat (Plural ungebräuchlich): wo jemand zu Hause ist; Land, Landesteil oder Ort, in dem man geboren und (oder) aufgewachsen ist oder ständigen Wohnsitz hat und sich geborgen fühlt oder fühlte." Dann fährt Frisch fort: "Was der Duden sagt, gilt auch für die Mundart. Unsere Mundart gehört zu meiner Heimat. Für viele Wörter finde ich oft kein hochdeutsches Synonym. Schon das lässt die Umwelt vertrauter erscheinen, wo ich sie mundartlich benennen kann. Als Schriftsteller übrigens, angewiesen auf die Schriftsprache, bin ich dankbar für die Mundart. Sie hält das Bewusstsein in uns wach, dass die Sprache, wenn wir schreiben, immer ein Kunst-Material ist." Lieber Max, wem sagst Du das? Mit der Drehbuchschreiberei ist das genau so, wenn auch mit etwas weniger Kunst, dafür mit mehr Material. An dieser Stelle möchte ich noch schnell ein Geständnis ablegen: Wer für mich mit diesem "Kunst-Material" am trefflichsten und gleichzeitig heitersten umzugehen wusste, war ein Mann, der unweit von hier auf der letzten Wanderung seinen Hut im Schnee verlor. Dieser "Homo walseriensis" hat seine eigene Spezies wie folgt beschrieben: "Der Mensch ist ein feinfühliges Wesen. Er hat nur zwei Beine, aber ein Herz, worin sich ein Heer von Gedanken und Empfindungen wohlgefällt." - Solche Sätze kann nur einer schreiben, der in und zwischen zwei Sprachkulturen aufgewachsen ist. Aber was heisst eigentlich: "Zur Welt gekommen"? In meinem Falle war "die Welt" ein paar Häuser am See und eine Dorfstrasse, die in einer Sackgasse enOBACHT SONDERAUSGABE 6 dete. Aber dafür stand mein Geburtshaus in einer grandiosen, archaisch-idyllischen Landschaft. Natürlich längst nicht so idyllisch wie die des Appenzellerlandes, aber immerhin archaisch genug, dass unsere welschen Landsleute die Gegend meiner Herkunft als "Suisse primitive" bezeichnen. Als 68er vertrat ich immer die Meinung, dass man als Bürger unseres Landes gar nicht zur Welt kommen könne, sondern höchstens zur Schweiz. In meinem Fall traf nicht einmal dies zu. Ich kam zu einer Grossfamilie. Und zwar als letztes von sechs Kindern - und erst noch ungefragt. Jedenfalls war vom ersten Tag an schon ziemlich viel Konkurrenz da. Sogar die Muttermilch musste ich teilen mit einem Girl aus der Nachbarschaft, dessen Mutter ein Stillproblem hatte. Bei dieser Gelegenheit lernte ich dafür schon früh das machiavellistische Prinzip "divide et impera" kennen - zu Deutsch: "teile und herrsche" -, das ich später auch beim Filmproduzieren und Regieführen zielorientiert eingesetzt habe und in veredelter Form leider auch in meinem Privatleben. "Zur Schweiz gekommen" bin ich dank der Rekrutenschule, und so richtig "auf die Welt gekommen" eigentlich erst durch meine Filmerei. Allem voran dank meiner Filme, die ich in meiner engeren Heimat gedreht habe, von denen jeder auf seine Weise mit unserem Landsgemeinde-Thema zu tun hat. Beim ersten der drei Filme handelt es sich um einen Dokumentarfilm über die Bergbauern im Kanton Uri, den ich 1973/74 gedreht habe. Der Titel, "Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind", ist übrigens ein wortwörtliches Zitat eines Berglers aus Bristen im Maderanertal. Und dieser Satz sagt "eigentlich" schon alles. Nämlich dass "eigentlich" schon seine Vorfahren immer schon da gelebt haben, zumindest seit Menschengedenken. Und darum "eigentlich " diese daran "Schuld" sind, dass sie immer noch da sind. Man ist geradezu versucht, von einer "Erbschuld" zu sprechen, ein anderes Wort für "Erbsünde ". Aber wann genau die ersten urnerischen Adams und Evas sich dort oben niederliessen, ihre ersten Hütten bauten, Gärten anlegten, Vieh züchteten, sich verliebten, bei sich wohnten und sich beiwohnten und ihre Kinder und Kindeskinder sich noch weiter oben niederliessen, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Was mich bei meinen Recherchen im Maderaner- und Schächental am tiefsten beeindruckte, war meine Erfahrung mit der "Kultur des Schweigens" dieser Menschen. Anfänglich wollten sie von mir "eigentlich" nur wissen, "wessen" ich sei, also von wem ich abstamme, wer mich zu ihnen geschickt habe und warum ich nicht die Studierten frage, die wüssten doch sowieso alles besser. Während ich ihnen wortreich antwortete und redete und redete, sagten sie immer 7 OBACHT SONDERAUSGABE nur "ja", aber "ja" in allen Farben: mal staunend, mal fragend, mal ungläubig und abwartend oder amüsiert und verwundert, aber nie gelangweilt und immer hellwach. Obwohl sie zwar immer nur "ja" sagten, wusste ich am Ende ziemlich genau Bescheid über sie und woran ich mit ihnen war - und sie mit mir. Und wenn ich nach Wochen wiederkam, diesmal mit meinem Tonbandgerät, war das Eis gebrochen. Die Gespräche verliefen immer gleich. Die Männer sassen mit einem frischen Hemd am Stubentisch und begannen zu erzählen, während ihre Frauen mit verschränkten Armen im Türrahmen standen und laufend ihre Ausführungen berichtigten. Dann schauten die Männer auf die Uhr und sagten, sie müssten jetzt in den Stall. Darauf setzten sich ihre Frauen an den Stubentisch und klärten mich stundenlang und druckreif über den aktuellen Stand der Dinge in Sachen Berglandwirtschaft und Berglerleben auf. Diese Bergbäuerinnen wussten mit ihrem angeborenen Hang zum Matriarchat so geschickt umzugehen, dass ihre klugen Männer meinten, ihre Frauen seien ihnen untertan. - Machiavella lässt grüssen! Aufgrund dieser Erfahrung sitzen im Film denn auch immer die Ehepaare vor der Kamera. Und zwar auf gleicher Augenhöhe mit meiner Kamera. Im Laufe der Dreharbeiten verwandelte sich ihre "Kultur des Schweigens" in eine reiche Kultur des Erzählens und Fabulierens in allen Färbungen des urchigen Urnerdialekts: präzis, tiefgründig, humorvoll und philosophisch. Worauf die Bergler und ich am Ende stolz waren: Der Film kam ohne einen Satz Kommentar aus, weder von mir noch von einem Studierten. Rückblickend erscheinen mir diese Drehtage in den Urner Bergen wie Reisen in die Vergangenheit - zu meinen Urahnen. Erst als ich diesen Film auch in skandinavischen Ländern, in Russland, in Nord- und Südamerika und sogar in Japan zeigte, realisierte ich, dass ich "eigentlich" einen Film über die Bergvölker dieser Erde gedreht hatte. Und es gibt wohl auch hierzulande kaum einen Stammbaum, der nicht bäurische Wurzeln hätte. Was mich darüber hinaus am herzlichsten mit diesen Berglern verbunden hatte, war ihr Humor. Als ich zuhinterst im Etzlital einem Alphirten begegnete, der mich mein assimiliertes Zwingli-Zürichdeutsch reden hörte, sagte er knochentrocken zu mir: "Dü Mürer, i däm Ziri ussä wett ich doch nid ämal tot sii." Und als ich mal gegenüber einem nicht ganz neidlosen Maderanertaler, dessen Heimet "Schattigberg" heisst, von den sonnigen Heimetli im Schächental schwärmte, erklärte mir dieser mit todernster Miene, dass deswegen das Schächental eben schon zu biblischen Zeiten besiedelt worden sei, und lieferte gleich die Legende dazu: Als zu jener Zeit Jesus mit dem Esel durchs Schächental ritt OBACHT SONDERAUSGABE 8 und dieser unverhofft seine Notdurft verrichtete, habe der Herr zu den dampfenden Eselsäpfeln gesagt: "Stehet auf und seid Schächentaler." Ehrlich gesagt würde es mich nicht wundern, wenn dieser heitere Maderanertaler eine appenzellische Grossmutter gehabt hätte. Nur nebenbei: Für Zweifler an der alttestamentarischen Abstammungslehre, aber auch für Kreationisten und Agnostikerinnen, die sich schon immer daran gestört haben, von einem Lehmklumpen bzw. von einer Männerrippe abzustammen, könnte die Schächentaler-Variante vielleicht eine echte Alternative sein. Sorry, ich glaube, ich bin vom Thema abgekommen. Oder vielleicht doch nicht! Als ich in meiner letzten Religionsstunde vor der "Ersten Heiligen Kommunion " dem Pfarrer die schüchterne Frage stellte, wie sich die Menschheit habe fortpflanzen können, wenn Adam und Eva nur zwei Söhne gehabt hätten ... oder ob Kain noch ein Schwesterchen bekommen habe, nachdem er seinen Bruder totgeschlagen habe, fühlte sich dieser in seiner Ehre und Fachkompetenz dermassen kompromittiert, dass ihm seine Hand ausrutschte und in geballter Form in meinem Gesicht landete. Anderntags sah ich zwar aus wie ein Pandabär, war aber dafür um die Erkenntnis reicher, dass Wissen und Glauben nichts miteinander zu tun haben. Abgesehen davon, dass der Pfarrer mich damit auf einen Schlag zum Darwinismus bekehrte, wofür ich ihm noch heute dankbar bin, inspirierte mich seine leicht missratene Aufklärung vierzig Jahre später vielleicht sogar zu jenem Film, der mir in Locarno einen "Goldenen Leoparden" einbrachte und in Japan unter dem Titel "Yama No Takibi" sogar Kultstatus erlangte. Zu Deutsch: "Höhenfeuer ". Eigentlich ist dieser Film eine griechische Tragödie, die ich in der archaischen Bergwelt von Uri und Nidwalden angesiedelt habe und in der es (auf den kürzesten Nenner gebracht) um Inzest und Elternmord geht. Aber der Film erzählt auch eine zarte (fast normale) Liebesgeschichte und - bezogen auf den gehörlosen Buben - auch die Geschichte einer Menschwerdung. Reduziert auf nur sechs Personen: Vater und Mutter, Sohn und Tochter und deren Grosseltern. Das Thema "wir Erben" und "wir erben" spielt in diesem Film eine dramaturgisch zentrale Rolle: Auf die Frage der Tochter (Belli) an ihre Grossmutter, weshalb ihre Familie "eigentlich" "die Jähzornigers" als Übernamen bekommen habe, sagt diese: "Vielleicht, weil es vor hundert Jahren in dieser Sippschaft mal einen gegeben hat, der so war." Und wie man es im Film erlebt, bricht dieser schlummernde Genvulkan namens "Jähzorn" nach hundert Jahren tatsächlich wieder aus. Und zwar in dem Moment, als der Vater, der seine Kinder wie Leib OBACHT 9SONDERAUSGABE eigene behandelt, von seiner Frau erfährt, dass sein Bub und seine Tochter Eltern seines Enkelkindes würden. Unerbittlich, wie in einer echten griechischen Tragödie, verursacht der "Jähzorniger" dadurch seinen eigenen Tod - und indirekt auch den seiner Frau. So gesehen ist "Höhenfeuer" auch ein Film über Sterben, Werden und Erben. Das grösste und gleichzeitig berührendste Kompliment für diesen Film kam mir nur indirekt zu Ohren. Der benachbarte Bauer des verwaisten Heimwesens, wo wir gedreht hatten, erzählte mir mal, an einem Sonntag habe ein Bergbauernpaar aus dem sonnigen Schächental bei ihm angeklopft, um sich nach dem Wohlergehen der zwei verwaisten Kinder zu erkundigen. Sie hatten einige Tage zuvor den Film im Kino gesehen und wollten den beiden und deren Kind einen Besuch abstatten und einen selbstgebackenen Kuchen vorbeibringen. "Komplimente" der ganz anderen Art bekam ich von bigotten Filmkritikern und Kinobesuchern im In- und Ausland, indem diese mir immer wieder dieselbe unverfängliche Frage stellten: "Herr Murer, inwiefern ist Ihr Film autobiografisch? " Und wenn ich dann mit der Gegenfrage antwortete, ob sie damit meinten, ob ich als gehörloses Bergbauernkind aufgewachsen sei ... oder meine Eltern umgebracht hätte ... oder ob vielleicht ihre Frage autobiografisch sei, fühlten sie sich in ihrer Würde und Fachkompetenz dermassen kompromittiert, dass sie an meiner Stelle rote Ohren bekamen. Immerhin hat mich niemand k. o. geschlagen. Obwohl Inzest an Königshäusern sogar an der Tagesordnung war, um das Erbe nicht aus der Hand geben zu müssen, wagte niemand das tabuisierte Wort in den Mund zu nehmen. Wer weiss: Hätte der Pfarrer mir damals eine eher "faustische" Antwort gegeben, zum Beispiel, dass die Autoren des Alten Testaments halt traditionsgemäss eher Machos gewesen seien und darum verschwiegen hätten, dass Adam mit Eva noch mindestens 13 Töchter gezeugt habe, wäre ich vielleicht Gründer einer Partei geworden, die aus Prinzip nur Frauen wählt, und würde darum heute nicht als Filmer, sondern als Volksvertreter vor Ihnen stehen. Und als solcher hätte ich Sie vermutlich mit "liebe Parteifreundinnen" begrüssen müssen, weil keine Männer gekommen wären. Allgemein sagt man doch, dass die Glaubwürdigkeit eines Volksvertreters in dem Masse zunimmt, wie offen und ehrlich er sein Privatleben auf den Tisch legt. Weil ich befürchtete, dass dies auch für Landsgemeinde-Redner gelten könnte, bat ich meine Ernährungsberaterin (mit gebrauchspsychologischem Hintergrund) um Rat, wie ich einen möglichst glaubwürdigen Auftritt hinkriegen könnte. OBACHT SONDERAUSGABE 10 Ihre Devise lautete: "Back to the roots, also grabe, wo du stehst!" Also begann ich da zu graben, wo ich seit 75 Jahren stehe. Und ich grub mich hinab so tief wie in ein Grab, hoffend, einen goldenen Armreif einer edlen Vorfahrin zu finden oder auf eine versteinerte Rippe eines blaublütigen Grossonkels zu stossen. Gefunden habe ich nichts als ein paar rostige Nägel, einen uralten Hammer ohne Sichel und einige Scherben von Gebrauchsporzellan aus Langenthal. Ganz zu schweigen von einer antiken Filmkamera mit Federmotor aus Urgrossvaters Zeiten. Also suchte ich halt auf dem Estrich weiter. Und da fand ich nebst meinem geschundenen Schultornister, an dem noch verkrustetes Blut vom niedergeboxten Pandabären klebte, das arg zerlesene Büchlein mit dem Titel "Schatzkästlein " von Johann Peter Hebel, aus dem meine Grossmutter mir vor dem Einschlafen oft vorlas. Und wenn sie zu müde war, sang sie mir halt nur Schubertlieder vor oder rezitierte aus dem Stegreif ellenlange Balladen. Ich kann mich nur noch an die letzte Zeile einer solchen erinnern: "Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch!" Um offen und ehrlich zu sein: Ohne meine Grossmutter wäre aus mir kein Filmer, sondern ein Sozialfall geworden. Was faktisch zwar auf dasselbe herauskommt. Immer wenn sich meine Mutter über mich ärgerte, warf sie mir vor, ich schlüge halt dem "Grosi" (ihrer Mutter) nach. Offenbar ist eine Familie auch dann eine Erbengemeinschaft, wenn es nichts zu erben gibt. Trotzdem fühlte ich mich zu Hause immer wie ein Kuckuck, im falschen Nest. - Nein, meine Damen und Herren, Ihr Verdacht ist leider falsch. - Aber eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass ich familienintern die "Rote Laterne" war. In einer entwicklungspsychologischen Studie über Grossfamilien habe ich mal gelesen, dass die Intelligenz bei den Erstgeborenen am höchsten sei und von Kind zu Kind kontinuierlich abnehme, während die Schlauheit von Kind zu Kind im Quadrat zunehme. So hatte ich das Glück, einerseits dumm genug gewesen zu sein, um Filmemacher zu werden, und anderseits aber auch schlau genug, um damit sogar internationale Bekanntheit zu erlangen. Für Leute, die an Genetik interessiert sind, sei hier noch verraten, dass meine Mutter die Älteste von vier Kindern war und mein Vater der Jüngste von acht. Aber um nochmals kurz offen und ehrlich zu sein, habe ich von meinen Eltern nebst viel Schlauheit und wenig Intelligenz noch unbezahlbar viele handwerkliche und künstlerische Begabungen mitbekommen, die ich inzwischen aber restlos an meine Töchter und Enkelinnen weiterverschenkt habe. 11 OBACHT SONDERAUSGABE Wie indirekt ja bereits erwähnt, besteht mein materielles Erbe deshalb aus einem Nullsummenspiel, weil meine Eltern in einem Fass ohne Boden zu Hause waren. Weshalb ich auch keinen einzigen Quadratmeter Land mein Eigen nennen kann, den ich im Kriegsfalle hätte verteidigen können. Mein selbstverschuldetes Erbe kann sich sehen lassen. Wenn auch nur im Kino oder auf DVDs. Und da ich weder eine Bank gegründet noch eine ausgeraubt habe, verfüge ich heute leider über keine lukrativen Verwaltungsratssitze, weshalb ich, um zu überleben, mit öffentlichen Geldern Filme machen musste. Um aber die Steuerzahler nicht übermässig zu strapazieren, beschränkte ich mich auf nur zwanzig Filme in über fünfzig Jahren. Und um meinem Land keine Mehrwertsteuern bezahlen zu müssen, habe ich mich darauf beschränkt, nur "kulturellen Mehrwert " zu schaffen. Dazu käme allerdings noch ein makelloser ökologischer Fussabdruck: Nach jeder Projektion meiner Filme sind die Leinwände jeweils wieder sauber. Was Architekten von ihrem "Spielplatz" nicht unbedingt sagen können. Zusammenfassend kann ich sagen, dass ich eigentlich ein bodenlos glücklicher Mensch bin - aber eben nur "eigentlich". Denn vor gut 25 Jahren hat mir ein seltsamer Bewunderer meines Films "Höhenfeuer" aus unerklärlichen Gründen ein Stück Land im Centovalli geschenkt, auf dem auch noch ein uraltes Steinhaus stand. Was mich an dieser Schenkung irritierenderweise am allermeisten faszinierte, war nicht etwa das archaische Steindach und Granitmauerwerk oder die blumenreiche Magerwiese rundherum, sondern die Vorstellung, dass ich jetzt Besitzer eines Stücks Erde war, und zwar bis hinab - oder hinein - zum glühenden Mittelpunkt. Das klingt absurd, ich weiss, aber offenbar hatte mich nun das Virus dieser uralten Erbkrankheit, die übrigens nur auf Menschen übertragbar ist, auch am Kragen gepackt. Dass ich nicht der Erste und Einzige bin, der von ihr, dieser "Gier", infiziert und heimgesucht wurde, geht aus einer Notiz des hellsichtigen Aphoristikers Georg Lichtenberg hervor, der bereits anno 1775 in sein Tagebuch geschrieben hat: "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung." Und wie wir inzwischen wissen, waren Kolumbus und seine Auftraggeber auch nicht die Ersten und Einzigen, die von dieser Erbkrankheit extensiv Gebrauch machten. Seit seinem Erscheinen im Holozän - wie Max Frisch sagt - ist der "Homo sapiens" ununterbrochen damit beschäftigt, sich die Erde untertan zu machen, sich "niemands Land" unter den Nagel zu reissen und die "Erste Natur" in "Zweite Natur" zu verwandeln. Die letzte Behauptung ist vielleicht erklärungsbedürftig: Stellen Sie sich eine riesige Panoramaleinwand vor, auf welcher der zweite Teil meines verschollenen OBACHT SONDERAUSGABE 12 Cinemascope-Dokumentarfilms läuft, den ich zusammen mit den letzten Neandertalern kurz vor ihrem Aussterben vor rund 30 000 Jahren über ihre Umwelt gedreht habe. Was Sie sehen würden, wäre, so weit Ihr Auge reicht, eine unberührte Natur - oder sagen wir mal, eine zu 99 Prozent unberührte -, die ich aus heutiger Sicht als "Erste Natur" bezeichnen würde. Und nun stellen Sie sich vor, auf der obersten Aussichtsplattform des Eiffelturms zu stehen. Was Sie sehen würden, soweit Ihr Auge reicht, wäre eine ausschliesslich von Menschenhand geschaffene oder beeinflusste Umwelt, die ich deshalb als "Zweite Natur" bezeichne, weil wir (und die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung) es als das Natürlichste der Welt empfinden, in dieses "gemachte Bett" hineingeboren zu werden und nicht in die unberührte Natur. Oder anders gesagt: Die "Erste Natur" haben wir geerbt, und die "Zweite Natur" haben wir daraus gemacht. Bezogen aufs Appenzellerland muss ich sagen, dass sich hier die zwei "Naturen " noch immer ziemlich eng und innig in den Armen liegen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die ersten Siedler schon im 7. und 8. Jahrhundert damit begonnen haben, die dichten Urwälder der umliegenden Hügelzüge abzuholzen, um urbares Land daraus zu machen. Offenbar haben die hiesigen "Zweibeiner mit Herz" ein Flair dafür, mit ihrem kostbaren Erbe verantwortungsbewusst und liebevoll umzugehen. Obwohl auch hier die "Erste Natur" erst ab etwa tausend Metern über Meer eine echte Chance hat, über sich selber Regie zu führen. Und auch dann noch müssen die echten Gämsen wohl damit leben, dass ihnen die schneeweissen, mit "Glöggli" geschmückten Appenzeller-Geissen das Gras wegfressen. Seit ich die Welt mit dieser naiven Zwei-Naturen-Optik anschaue, erscheint mir der unumkehrbar fortschreitende und nach dem Chaosprinzip funktionierende Umwandlungsprozess von "Erster" in "Zweite Natur" als ganz natürlicher Vorgang - und aus zivilisatorischer Sicht auch ein zwingend notwendiger -, wenigstens solange es uns noch gibt. Wie unser eingangs zitierter Biochemiker Gottfried Schatz erwähnt hat, "sind wir Menschen an diesem wundersamen Baum des Lebens nur ein später Zweig". Ich bin zwar versucht zu sagen: "Auf dem wir sitzen und lustvoll daran sägen". Aber lassen wir doch zuerst mal einen richtigen Ast daraus werden. Schliesslich hat unsere Zivilisation ja nicht nur primitive Kettensägen hervorgebracht, sondern wir spazieren auch über den Mond, spalten Atome und haben unsere vererbbaren Gene entschlüsselt. Also läge es eigentlich auch in unseren Händen und Hirnen, diesen Prozess nicht nur mitzuverursachen, sondern auch kreativ, human und heimatliebend mitzugestalten. Sogar in der schmuddeligen 20-Minuten-Farbzeitung, die im SBB-Abteil herum OBACHT 13SONDERAUSGABE lag, habe ich eben gelesen, dass in der Schweiz pro Sekunde ein Quadratmeter Land verbaut wird. Ob Sie sich nun als "overnewsed" oder als "underinformed" vorkommen, müssen Sie selber wissen. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich liebe die "Zweite Natur" weit mehr als die "Erste". Ich ziehe gekochtes Fleisch dem rohen vor. Und von zu viel Grün bekomme ich eher Kopfweh. Ich war auch mal drei Wochen in der Sahara mit einer Kamelkarawane. Das war eine grandiose und existentielle Erfahrung, aber sie hat mir genügt fürs Leben. Zudem habe ich drei Viertel meines Lebens damit verbracht, "Zweite Natur" in "Dritte Natur" zu verwandeln, nämlich in eine rein virtuelle, die in Wirklichkeit gar nicht existiert - oder nur in unserer Fantasie. Wissenschaftlich betrachtet lachen und weinen wir im Kino wegen projizierten Lichts. So gesehen ist Film die reinste Zauberei. Wenigstens konnte man die analogen Filme haptisch noch durch die Finger gleiten lassen, und die Rolle eines 35-Millimeter-Spielfilms wog noch zwanzig Kilo. Ein Chip, in dem heute derselbe Film gespeichert ist, wiegt vielleicht noch ein halbes Gramm. Das physische Erbe unserer 130-jährigen Filmkultur wird also unumkehrbar in ein unberührbares, virtuelles Pixel-Nirwana entschwinden. Und niemand weiss so genau, bis wann es sich selber in nichts aufgelöst haben wird. Da lobe ich mir den Blick aus dem Flugzeugfenster hinunter auf die real existierende, selbstkreierte Erdoberfläche, die mir in ihrer Fragmentierung oft wie moderne Malerei vorkommt, und zwar im besten Sinne des Wortes. Dazu das leise Summen der Motoren und einen Campari Soda. - Auch das finde ich Lebensqualität. Und wenn wir schon in der Luft sind: Auf meinem Flug nach Japan an die Premiere meines Films "Höhenfeuer" erfuhren wir aus dem Bordlautsprecher der Swissair, dass sich in Tschernobyl ein Super-GAU ereignet habe und dass die radioaktive Wolke sich Richtung Osten bewege. Die Endzeitstimmung in unserer Kabine vergesse ich nie mehr. Das war am 26. April 1986. Das holte mich wieder auf den Boden der Realität zurück. Und wieder zu Hause, sagte meine damals 16-jährige Tochter Sophia zu mir: "Dada, du musst unbedingt einen Film über die Gefährlichkeit der Erwachsenen machen." Ich nahm ihren Auftrag zwar nur zähneknirschend entgegen, da ich andere Filmpläne hatte. Schliesslich wurde daraus mein dritter Film, den ich in der Innerschweiz gedreht habe: "Der grüne Berg - Eine Landsgemeinde über grosse und kleine Fragen beim Entsorgen von radioaktiven Abfällen". In diesem Film hat ein Bergbauernsohn den Kern der Sache in einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht, indem er sagte, man könne Gift doch auch OBACHT SONDERAUSGABE 14 nicht in den kleinen Finger spritzen und meinen, es bleibe dann dort. In Anbetracht der Langlebigkeit dieser strahlenden Hinterlassenschaft stellte ich diesem Film die Frage nach der Verantwortung unserer Gesellschaft gegenüber künftigen Generationen voran und widmete ihn den Kindern und Kindeskindern rund um den Wellenberg. Der Film lief 1990, im Vorfeld der Moratoriumsinitiative für einen zehnjährigen AKW-Baustopp, in Kinos und im Fernsehen und löste heftige Diskussionen aus. Obschon die Initiative knapp angenommen wurde, ist mein Film ein sehr kleiner Tropfen auf einen sehr heissen Stein geblieben. Aber so ist das eben im Leben: "Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch!" Im Film "Vollmond" habe ich das Thema "Verantwortung gegenüber künftigen Generationen" nochmals mit fiktionalen Mitteln anzugehen versucht. Am Anfang des Films verschwinden bei Vollmond landesweit zwölf Kinder spurlos und stellen ihren Eltern ein Ultimatum - mit Frist, bis der Mond wieder voll ist. Inzwischen ist aber auch meine Frist abgelaufen, und ich weiss noch immer nicht, ob ich meine Rede nun "tatortgerecht gut" oder "märchenhaft böse" beenden soll. Ich mache einen allerletzten Versuch: Während der Dreharbeiten zu "Höhenfeuer " erfuhr ich zufällig vom jungen Dorfarzt, dass meine Mutter (mit 83) vor seinen Augen in Ohnmacht gefallen sei, weil sie aufgrund seiner Ähnlichkeit meinte, dass Robert, ihre erste grosse Liebe, die vor sechzig Jahren nach Amerika ausgewandert war und nie wieder heimkehrte, ungealtert vor ihr stehe. Leicht irritiert gestand ich meiner Mutter, dass ich eigentlich von Glück reden könne, dass sie ihrem Geliebten nicht nachgereist sei, sonst würde es mich nicht geben. Worauf sie, ohne eine Sekunde zu zögern, sagte: "Was ... würde es Dich nicht geben, Du wärst einfach ein Amerikaner." Das Fazit: Wäre meine Mutter ihrem Herzen gefolgt, wäre ich dem Schweizer Film erspart geblieben - und Ihnen auch. Womit ich in letzter Sekunde doch noch ein "Hollywood-Happy End" für meine erblich vorbelastete Rede gefunden habe.

Fredi M. Murer Er gilt als Pionier des "Neuen Schweizer Films". Im Laufe der letzten fünfzig Jahre hat er 23 Dokumentar- und Spielfilme realisiert und zahlreiche Preise gewonnen. "Höhenfeuer" (1985), der von einer geschwisterlichen Liebesbeziehung handelt, wurde wiederholt zum "besten Schweizer Film aller Zeiten" gekürt. "Der grüne Berg - eine filmische Landsgemeinde über kleine und grosse Fragen beim Entsorgen von radioaktiven Abfällen" (1990) ist den künftigen Generationen gewidmet. In seinem letzten Werk "Liebe und Zufall" geht Murer von einem autobiografischen Roman seiner Mutter aus, den sie ihm an ihrem neunzigsten Geburtstag vererbt hat. Fredi Murer lebt und arbeitet in Zürich.

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