Ausgabe

Wohnlandschaften

No. 33 | 2019/1

«Obacht Kultur» No. 33, 2019/1 zum Thema Wohnen.

Auftritt: Thomas Stüssi. Bildbeiträge: Florian Graf, Walter Angehrn. Texte: Julia Weber, Ingrid Feigl, Christian Rothmaler u.v.m.

Online blättern
Ausgabe bestellen

Radar

Herr im eigenen Haus?

von Ingrid Feigl

Domizil: der Wohnsitz, Nomen est Omen – ob Hütte, Haus oder Schloss, die Wohnung soll sitzen wie ein gut geschnittenes Kleid, ist uns eine Art zweite Haut. 

Wohnen bedeutet Rückzug und Versteck, wohlige Wohnhöhle, Reservat für Intimes, im «Sweet Home» schaffen wir uns die Illusion von Geborgenheit. Wohnen als Privatangelegenheit wird jedoch immer mehr zum öffentlichen Thema, die Kulisse «Wohnung» wird zum persönlichen Vorzeigealbum, wo jeder sein Lebensgefühl ganz nach eigenem Gutdünken inszeniert und dem Besucher einen Spiegel seiner privaten Weltordnung zeigt. Die Privatsphäre ist mittels moderner Kommunikation gut mit der Welt vernetzt, das Herzeigen des eigenen Zuhause in den Medien ist en vogue und keineswegs peinlich. Blamieren tut man sich allenfalls mit der falschen Einrichtung, mit schlechtem Geschmack und einem Stil von vorgestern.

«Gutes Design sitzt uns einerseits als moralischer Imperativ im Nacken, andererseits existiert kein einheitlicher Stilkodex mehr, alles ist erlaubt.»

Jeder hat das Copyright auf seine sogenannt «eigenen vier Wände», daheim wird die Welt zum individuellen Projekt umgebaut. Eine solche Carte blanche zur privaten Ausgestaltung geht aber bisweilen ganz schön ans Zeit-, Nerven- und Geldbudget. Heute kauft man eine Wohnungseinrichtung nicht einfach ein. Nein, man sucht sie sich zusammen, ertrödelt seltene Stücke und gestaltet das Ganze zu seinem ureigensten Gesamtkunstwerk, jeder Wasserhahn wird zum Denkmal. Das Luftschloss Wohnung muss hart erarbeitet werden, die Suche nach dem ultimativen Designteil wird schon fast zum Selbstfindungstrip. Weiss man mit seinem eigenen Wohnlatein nicht weiter, werden Wohnberatung und Stylemagazin zur Gehhilfe. Man wäre gerne im Trend und will doch unverwechselbar und einzigartig sein, ein schwieriges Unterfangen angesichts der Auswahl ohne Ende. Gutes Design sitzt uns einerseits als moralischer Imperativ im Nacken, andererseits existiert kein einheitlicher Stilkodex mehr, alles ist erlaubt, «anything goes» wird zum Inbegriff von Individualität. Selbst sichere Werte wie Küche / Bad / Wohn- und Schlafzimmer lösen sich auf, die Raumgrenzen sind zunehmend fliessend, auf unserer Wohninsel kreieren wir Koch-, Schlaf- und Sofa-inseln, die uns in einer zunehmend unübersichtlichen Welt als sichere Anlegeplätze dienen. Je globalisierter und unsicherer die Welt draussen, umso grösser der Wunsch nach Echtheit drinnen: Klar- und Schlichtheit, Reduktion, Nachhaltigkeit und Minergie sind Wunschprogramm. Wohnungen vollgestellt mit Zierrat, Massenware und 08/15-Einrichtung werden in Vorher-Nachher-Aktionen geliftet und vom Gerümpel der eigenen Historie befreit, ausgemistet, weil unpassend zum neuen Wohnoutfit, Profiaufräumerin Marie Kondo lässt grüssen! Oftmals resultieren daraus entseelte, leer gefegte Designwohnungen, die anmuten, als hätten Diebe eben alles Brauch- und Essbare fortgetragen. 

Sigmund Freud schrieb 1917 in seiner Arbeit «Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse», eine der grössten Kränkungen der Menschheit sei, «... dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus». 

Schöner Wohnen soll sich doch einfach wie ein richtiges Daheim anfühlen!

Ingrid Feigl, geboren 1954 in Graz, wohnt und arbeitet in Zürich. Studium der klinischen Psychologie und Philosophie, seit 1985 Psychoanalytikerin in eigener Praxis, Mitglied des Psychoanalytischen Seminars Zürich (PSZ). Schreibt seit 2007 im NZZ-Folio als Mitautorin die Rubrik «wer wohnt da».

zurück