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BÜHLER?

No. 36 | 2020/1

«Obacht Kultur» N° 36, 2020/1 erkundet ein vielen unbekanntes Dorf mitten im Appenzellerland: Bühler.

Auftritt: Brigit Widmer
Umschlag: Isabel Rohner
Bildbogen: Mark Staff Brandl
Texte: David Signer, Johanna Lier, Lea Sager u.v.m.

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Thema

Wieso Bühler: Annäherung über verschiedene Wege

Treffpunkt Steigbach. Zu früh. Warten auf die andern. Der erste Eindruck ist seltsam. Ein Brunnentrog mitten auf der Zufahrtsstrasse dient als Verkehrsinsel, ist organisch zum Kreiselobjekt geworden, um das die Autos aus beiden Richtungen im Linksverkehr kurven. Davor ein WC-Kaffee-Häuschen der sanitäranlagenlosen Appenzeller Bahnen, errichtet, weil die Lokführer an dieser Station jeweils auf den Gegenzug warten müssen. Das Regelwerk scheint hier verschoben. 

Das Redaktionsgrüpplein Obacht Kultur tut an einem eisig kalten, schneelosen Wintermorgen, was es und jede und jeder einzelne öfters tun mag. Anhalten, sich Zeit nehmen, hinschauen, umherstreifen, zuhören. Detailkundig begleitet insbesondere von Urs Klauser und Erwin Sager, helfen uns ausgewählte Besichtigungen und Gespräche stellvertretend für viele andere Orte ein Gefühl dafür zu entwickeln, was das ausgeprägte Strassendorf ausmacht. Dass Bühler boomt, hängt mit der in der Industriegeschichte verwurzelten Durchmischung der Dorfbevölkerung zusammen, mit günstigen Wohnmöglichkeiten, aber gerade auch mit der vermeintlichen Unattraktivität, die beste Voraussetzung für ein Tun und Lassen jenseits grosser Spektakel bietet – es ist ein komplexes Zusammenspiel von soziologischen, wirtschaftlichen, kulturhistorischen und psychologischen Faktoren. Hier, wo einst auf der einen Talseite der grossartige Abdullah Ibrahim, damals noch Dollar Brand, aufgetreten ist, und wo auf der andern Talseite vor einigen Jahren ein weltbekannter Künstler, Albert Oehlen, sein Atelier eingerichtet hat, hier ist Verweilen vergnüglich, vernünftig, vielfältig. ubs 

Erika Masina: «Ich war begeistert von den Frauen an der Spitze»

Mitten in die lähmende Ohnmacht-Stimmung, die sich nach der denkwürdigen Landsgemeinde 1990 breit macht, wähnt die engagierte und quirlige Kindergärtnerin Erika Masina in Bühler Aufbruch und eine vitale Atmosphäre. Als sich die Männer in Innerhoden, wo sie wohnt und als grossartige, unkonventionelle Pionierleistung den Kindergarten in Schwende aufgebaut hat, einmal mehr gegen das Frauenstimmrecht entscheiden, sieht sie sich mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert. Sie, die schon immer mit Vehemenz für das Ansehen des beruflichen Standes der Kindergärtnerinnen und Kindergärtner sowie für die Bedeutung des pädagogischen Bildungsauftrags eingestanden ist, weiss um die Bedeutung einer offenen politischen Grundstruktur. Sie hat Bühler im Visier als ihr neues Wirkungsfeld. Sie glaubt an das Potenzial eines fortschrittlichen Schulwesens mit einer neuen Schulverordnung in Bühler und ist begeistert von den Frauen an der Spitze: Elisabeth Eschler als Gemeindepräsidentin, Simone Tischhauser als Schulpräsidentin und Landammann Hans Höhener als weitsichtiger Erziehungsdirektor auf kantonaler Ebene. Ihr behagt die gesellschaftliche Vielschichtigkeit von Bauern, Gewerbe und Industrie sowie der Einwohnerinnen und Einwohner mit Migrationshintergrund – sechzig Prozent zu jener Zeit. Integration ist ihr ein persönliches Anliegen, lange bevor der Begriff zum Allerweltsaufruf mutiert. Mit Enthusiasmus und Herzblut und in unkompliziertem Zusammenarbeiten mit Behördenvertretungen baut sie gemeinsam mit Berufskolleginnen die Migrantenschule DEMUKI (Deutsch für Mutter und Kind) auf. Sie heissen alle mit Interesse und Respekt willkommen und unterrichten sie in einfachen Schritten vom «Grüezi»-Sagen bis zum sicheren sprachlichen Umgang im öffentlichen Umfeld. Es geht darum, durch echte und ernst genommene Integration wie Unterricht und Anlässe Respekt und Selbstwertgefühle zu vermitteln. (an)

Jürg Engler: «Integration heisst sich begegnen»

Ein Viertel Jahrhundert nach dem Engagement von Erika Masina, als die Dinge ihren Verlauf genommen, die Wirtschaft und die Gesellschaft sich grundlegend und in verschiedene Richtungen verändert haben, Pionierleistungen etabliert oder eliminiert, grossartige Ideen und Modelle modifiziert sind, hat sich in Bühler eine vielfältige Kultur- und Wirtschaftslandschaft entwickelt, deren Blüten im Stillen und fast Geheimen spriessen. Im Gespräch mit Jürg Engler, der als «Zurückgekehrter» seit 2019 Gemeindepräsident ist und zuvor fünf Jahre im Gemeinderat amtete, kommt das Klischee des unbelebten Strassendorfes stark ins Wanken. Er erzählt von den Vorzügen seiner Gemeinde, die bei der Durchfahrt vielleicht nicht sichtbar sind und für die sich Anhalten und Hinschauen lohnt. Geleitet vom Motto «miteinander, offen sein und etwas tun», berichtet er von Aktivitäten, Veranstaltungen, Projekten und Visionen. Er erinnert sich, dass schon in seiner Jugend im FC Bühler das Miteinander von italienischstämmigen und Schweizer Fussballern Selbstverständlichkeit war und wie später der Mädchen- und Frauenfussball dazukamen. Eine lebendige Vereinskultur – vom Feuerwehrverein bis zum Projekt  «kulturell 9055» –, Institutionen wie Kirche, Bibliothek, Lesegesellschaft oder andere Initiativen prägen das Dorf. «Integration heisst sich begegnen, sich kennen- und schätzen lernen, Sprachförderung und Generationen verbindende Projekte wie ‹Gemalte Geschichten› aus dem Dorf, die in Bild und Wort festgehalten werden, bilden elementare Brücken.» Wie all die aktuellen Engagements und Bewegungen im Dorf auch in Zukunft zu einem selbstverständlich sichtbaren lebendigen Alltag führen, wird sich weisen. (an)

Urs Klauser und Kathrin Grieder Klauser: «Sich einbringen prägt das Dorf – und uns»

Es war einst ein abgezirkelter Entscheid von Urs Klauser. Der junge Lehrer suchte eine Stelle und hatte klare Vorstellungen: nicht im Kanton St. Gallen (die Schulpolitik gefiel ihm nicht), höchstens zehn Kilometer von der Stadt St. Gallen entfernt (sein Lebensmittelpunkt) und mit dem ÖV erreichbar. Mit dem Zirkel zog er einen Kreis auf die Landkarte. Freie Lehrerstellen gab es viele, doch seine Affinität zum Appenzellerland, die Liebe zur (Streich-)Musik sowie das offenere Schulsystem sprachen für Ausserrhoden. Das Vorurteil vom «langweiligen Strassendorf» gab es bereits, aber Urs Klauser liess sich bei einem Spaziergang zur Wissegg mit dem Schulpräsidenten überzeugen: 1974 zog er nach Bühler und wurde Primarschullehrer. 46 Jahre später sitzen wir mit ihm und seiner Frau Kathrin Grieder am Stubentisch, blicken hinüber zur Kirche, die letztes Jahr eine äusserst gelungene Innenrenovation erhalten hat. «Der Entscheid damals für Bühler war absolut richtig», sagt Urs Klauser. Zwar habe er nach ein paar Jahren im Dorf mal überlegt, die Musik zum Beruf zu machen oder wegzuziehen. Doch dann trat die Thurgauer Chemielaborantin und Handarbeitslehrerin Kathrin Grieder in sein Leben, und er erhielt die Gelegenheit, ein Appenzellerhaus im alten Dorfkern zu erwerben. Ein Wegzug war kein Thema mehr. Wieso auch: Die Schule bot viele Freiheiten, die multikulturell geprägten Klassen empfand er als Bereicherung, und er schlug schnell Wurzeln. Für Kathrin Grieder war der Start in Bühler nicht so einfach, weil sie in der Gegend keine Stelle als Handarbeitslehrerin fand. Ihre Erstausbildung brachte sie dann zur EMPA nach St. Gallen, wo sie dreissig Jahre bis zur Pensionierung arbeitete. Die Dorfgemeinschaft habe es ihr aber leicht gemacht, sich rasch heimisch zu fühlen. Dies sei eine positive Seite von Bühler, betonen beide, geprägt durch die ansässige Industrie, die immer auf den Zuzug von Arbeitskräften angewiesen gewesen sei. Die ökonomische Bindung an grosse Firmen führte allerdings nach einigen Betriebsschliessungen auch zum Rückgang der Einwohnerzahl und zum Verlust von Dorfläden und Restaurants. Diese Abwärtsspirale hat vor einigen Jahren gedreht, das Dorf kann sich über den Zuzug junger Familien freuen, ehemalige Fabrikräume wie der Eschlerpark sind wieder mit Gewerbe gefüllt oder werden umgenutzt, es gibt wieder eine Metzgerei, mit dem «Sternen» ein beliebtes Restaurant und mit dem «Kafi 55» einen Begegnungsort, der von Freiwilligen aus dem Dorf betrieben wird. Was Wachstum und Bautätigkeit für ein Dorf bedeutet, hat Kathrin Grieder während acht Jahren als Gemeinderätin und Präsidentin der Baubehörde konkret erlebt. Zwar sei der Einfluss der Baubehörde auf Neubauten klein, solange sich die Bauherrschaft an die Gesetze hält. Dennoch habe das Dorf sein Potenzial, wenn es um Innenentwicklung und Umgang mit Freiräumen gehe. Sich einzubringen, wie das Urs Klauser und Kathrin Grieder tun, das prägt einen und ein Dorf. Und kann sich in so kleinen wie bemerkenswerten Dingen wie auf dem Friedhof zeigen, wo ein vom Künstler Jan Kaeser gestaltetes, interkonfessionelles Grabzeichen verwendet wird – Bühler zählt damit schweizweit zu den Vorreitern. (as)

Harlis Hadjidj-Schweizer: «In Bühler triffst du niemanden einfach so»

«Du kommst an und denkst: ‹Was ist das eigentlich?›» Befremden. Verwunderung. Ratlosigkeit? In Bühler zu landen, war für Harlis Hadjidj-Schweizer weder selbstverständlich noch ein ewig gehegter Wunsch: «Bühler suchst du dir nicht aus, sondern gehst hin, wenn sich eine Gelegenheit bietet.» Die Künstlerin lebte lange in St. Gallen, hat in Städten wie Genf und Lausanne gewohnt und schätzt das urbane Leben: «Es ist unkompliziert, du gehst aus dem Haus und begegnest Leuten. In Bühler trifft man niemanden einfach so.» Kein Markt, kein Schwimmbad, nicht einmal auf dem Spielplatz bieten sich Gelegenheiten, andere Menschen kennenzulernen. Anfangs streift Harlis Hadjidj-Schweizer mit ihrer Tochter durchs Dorf, oft vergebens. Dann findet sie schliesslich doch den richtigen Ort: «Auf der Wiese vor dem Altersheim machte Lyna ihre Saltos, und ich kam mit den betagten Menschen ins Gespräch. Ich erfuhr viel über das Dorf, auch dass es Vereine für alles Mögliche gibt und Ideen sehr willkommen sind.» So entsteht das Geschichtenatelier: Altersheimbewohnerinnen und -bewohner, aber auch andere Interessierte aus dem Dorf und sogar solche, die weggezogen sind, erzählen aus ihrem Leben; Kinder und Erwachsene lassen sich auf die Geschichten ein, gestalten Bilder, nehmen Teil an Erinnerungen, um sie im Jetzt nochmals neu zu zeigen. Dieser Initiative von Harlis Hadjidj-Schweizer folgen weitere wie etwa das neu gegründete Kollektiv «Streunender Hund» und seine Ausstellungen. Die Künstlerin ist angekommen, und Kompromisse sind sowieso überall nötig: «Das ‹Aber› gibt es immer, auch in der Stadt.» (ks)

Maria Nänny: «Es hilft, fort gewesen zu sein»

«In Zürich ist uns das Dach auf den Kopf gefallen.» Maria Nänny und ihre Familie sind nach Bühler gezogen, denn die Enge der Stadt war zu gross geworden: «Wir haben dort in einer Genossenschaft gewohnt. Das hatte zwar schöne Vorteile: Alle Familien gingen bei den jeweils anderen ein und aus. Aber oft wurde uns das auch zu viel.» Das hat sich mit dem Umzug radikal geändert, denn die nächsten Nachbarn leben hundert Meter entfernt: Familie Nänny wohnt in einem Bauernhaus mit umgebauter Scheune in der Rothalde am Dorfrand von Bühler. Hier ist es licht und weit, der Blick reicht bis zum Säntis und darüber hinaus. Die Enge scheint nicht so schnell näherzukommen. Aber schliesst geografische Distanz die soziale Enge aus? Wie verhalten sie sich zueinander? Kann die Enge auch Qualitäten entfalten? Maria Nänny kennt das Leben in der Stadt ebenso gut wie dasjenige im Dorf. Sie ist in Bühler aufgewachsen, ist nach zwanzig Jahren eine Rückkehrerin: «Die Umstellung war sehr gross, aber ich wusste, was mich erwartet. Und es hilft mir, fort gewesen zu sein.» Viele Menschen im Dorf kennt Maria Nänny noch, aber auch die Netzwerke der vergangenen zwei Jahrzehnte bestehen weiter, nicht zuletzt dank der Arbeitswelt: Die Sprach- und Kunstwissenschaftlerin arbeitet in St. Gallen – und will das Flair von Stadt und Land verbinden: «Mit dem neu gegründeten Kollektiv ‹Streunender Hund› wollen wir die Kunst von der Stadt aufs Land holen und an unüblichen Orten zeigen.» Dass so etwas funktioniert, zeigt sich in Ausserrhoden immer wieder. Viele erinnern sich gerne an die Ausstellungen «För Hitz ond Brand» oder «à discrétion» – die Neugier ist da, gerade auf dem Land. (ks)

Patrik Riklin: «Liebe auf den vierten Blick»

Eigentlich konnte sich Patrik Riklin nicht vorstellen, aus St. Gallen wegzuziehen. Durch Bekannte hörte er, dass in der Fabrik am Rotbach in Bühler ein Häuschen frei werde. «An einem Samstag traf ich dort Guido Koller», erinnert sich Patrik Riklin. «Ich stand auf der Schwelle der Eingangstüre und hatte meinen Fuss noch nicht aufgesetzt, da wusste ich bereits: Das ist es!» Er habe Koller, den heutigen Besitzer des Areals, zuvor nicht gekannt, aber bald gemerkt, dass man von einem Vermieter wie ihm nur träumen könne. «Guido hatte vorgeschlagen, ich solle einen künstlerischen Beitrag für das Areal gestalten. Mit meinem Bruder Frank entwickelte ich die Idee einer ‹Kunst im Haus›-Arbeit. Wir haben unsere Projekte ‹Bignik› und ‹Null-Stern-Hotel› vereint und eine Insitu-Installation im Bignik-Nullstern-Design geschaffen. Ein rot-weisses Badezimmer im Keller.» Vernissage war im September 2019, am Jubiläumsfest zu dreissig Jahren Fabrik am Rotbach. Der Gestalter Ruedi Zwissler hatte das Areal mit der ehemaligen «Bleicherei in der Au», die 1800 als erste Fabrik im Bühler gegründet worden war, 1989 gekauft und die damals visionäre Idee eines Orts mit Werkstätten und Wohnräumen umzusetzen begonnen. Patrik Riklin schätzt am Rotbach den «Dorfcharakter». «Es ist ein Ort mit einem guten Geist, reduziert und durchdacht umgebaut. Es gibt ein soziales Gefüge, gute Nachbarschaft, aber keinen Kommunen-Groove.» Zu Bühler hat er eine frühe Verbindung: «Während der Lehre als Hochbauzeichner habe ich die Pläne für die Turnhalle Bühler gezeichnet und war oft auf der Baustelle.» Damals hätte er sich nicht vorstellen können, mal hier zu wohnen. «Zu Bühler gibt es wohl keine Liebe auf den ersten Blick, das Dorf wirkt nicht wie eine Augenweide. Aber für Bühler entwickelt man eine Liebe auf den dritten oder vierten Blick.» (as)

Engelbert Weis – Elbau: «Die Heimatgemeinde unterstützen»

Die edelste Betriebskantine im Appenzellerland steht in Bühler. Genauer: in der Elbau Küchen AG am Dorfeingang. Serviert werden Mahlzeiten aus dem Landgasthof Sternen. Die Firma will ihren rund 75 Beschäftigten in unterschiedlichen Berufszweigen und mit verschiedenen Nationalitäten attraktive Arbeitsplätze bieten. Homeoffice, Teilzeit und andere zeitgemässe Arbeitsmodelle sind schon seit Jahrzehnten eingeführt. Das Unternehmen weiss, dass seine Produktequalität auch von den Mitarbeitenden abhängt. Und von Robi, wie der grosse Greifarm-Roboter in der riesigen Fabrikationshalle liebevoll genannt wird. Hier spielt die Firma ebenfalls eine Vorreiterrolle: Sie nutzt die Digitalisierung, die Produktion ist fast vollständig automatisiert. Nebst dem Textilunternehmen Tisca Tischhauser ist Elbau der zweite grosse industrielle Arbeitgeber in Bühler. Aber warum Bühler? Engelbert Weis, Verwaltungsratspräsident und Geschäftsführer, hat Holztechnik im bayerischen Rosenheim studiert. Als technischer Leiter vor dreissig Jahren ins Unternehmen eingestiegen, antwortet er: «Die Firma wurde von Walter Fürer, der in Bühler eine Schreinerei führte, mitgegründet. Er suchte Mitte der 1960er-Jahre einen Ort, um Küchenelemente seriell herzustellen, und fand ihn in den leerstehenden Gebäuden der ehemaligen Fabrik am Rotbach. Er wollte damit auch seine Heimatgemeinde unterstützen.» Ortstreue und Pragmatismus also? Elbau jedenfalls produziert heute jährlich 3500 hochwertige Küchen für den Deutschschweizer Markt und sieht keinen Grund umzuziehen. Und ja: Engelbert Weis kocht auch selbst – und gerne. (ic)

Thomas Luminati: «Das Haus hat mich nach Bühler geholt»

Das Jugendstilhaus an der Dorfstrasse 47 in Bühler hat etwas Witziges. Neben der Türe ist ein behauener Stein in das Mauerwerk eingelassen, der einen griesgrämigen Mann mit Bettmütze und einer Laterne zeigt, der sich durch ein Fenster zu zwängen scheint, um nachzusehen, wer Einlass begehre. Seit zweieinhalb Jahren gehört das Haus Thomas Luminati – auch er eine Art Laternenmann. Er trägt das Licht nicht nur in seinem aus Italien stammenden Namen, sondern hat es zu seinem Beruf gemacht. Der gelernte Elektriker und Elektrozeichner schuf sich einen Ruf als Entwerfer von Licht- und Raumkonzepten. Sein Haus, wo er Arbeiten und Leben vereint, hat er nun sozusagen als Referenzobjekt gestaltet: Die Grundstruktur, Stuckaturen, Schnitzereien, Parkettböden und Türen blieben erhalten. Jeder Raum hat wie bis anhin seine eigene Atmosphäre. Die bunten Tapeten aber sind weg, die meisten Leuchtkörper neu. So kommen die eleganten Details zur Geltung. Die hohen Räume sind dank der grossen Fenster lichtdurchflutet, bieten aber auch schattige Nischen – Lichteffekte wie bei Rembrandt.

Der Architekt des 1906 erbauten Hauses ist nicht bekannt, obwohl es bis 2017 in der Familie vererbt wurde. Zuletzt haben es der ehemalige Teufner Pfarrer Hans Martin Walser und seine Frau Dora bewohnt. Ab 1950 hatte Elisabeth Walser darin ein Säuglingsheim betrieben. Als der «Nebelspalter» 1955 die Frage stellte, welcher Verein in der Schweiz noch fehle, erreichte sie unter weit über tausend Einsendungen den ersten Rang mit dem Vorschlag: «Verein ehemaliger Säuglinge». (sri)

Jeannot Müller – Flusskrebsstation: «Einst verpönt, heute eine Delikatesse»

Heftig schlägt der Flusskrebs mit den Scheren aus und versucht sich aus dem Handgriff zu winden. Mit seinen zwanzig Zentimetern Länge sieht er aus wie eine überdimensionierte Crevette. Leben tut dieses ausgewachsene Exemplar mit rund 200 anderen Elterntieren in der Flusskrebsstation hoch über Bühler. Jeannot Müller, der mit einer Belgierin zusammenlebt und sehr glücklich mit Bühlers durchmischter Bevölkerung ist, suchte neben seinem Berufsschullehrer-Pensum und dem Engagement als Vater noch eine dritte erfüllende Beschäftigung und hat sich der Flusskrebszucht verschrieben. Drei Minutenliter Quellwasser an seinem Wohnort, der Mehlersweid, gaben den Ausschlag: Für Fischzucht zu wenig, aber für die Haltung von Flusskrebsen ideal. Auf seine ungewöhnliche Tätigkeit angesprochen, meint er: «Bühler steht unter keinen besonderen Erwartungen, weil die meisten nur durchfahren und es nicht kennen. Das schafft kreativen Freiraum.»

Flusskrebse gab es früher massenhaft. Ein Ende des 19. Jahrhunderts aus den USA eingeschleppter Pilz hat ihn in Europa stark dezimiert. Mit Hilfe des WWF und der Fischereiverwaltungen beider Appenzell (die Mehlersweid gehört politisch zu Innerrhoden) hat Jeannot Müller ein System von Becken, Kanälen und Tümpeln eingerichtet. Darin züchtet er den stark bedrohten Steinkrebs nach mit dem Ziel, ihn wieder anzusiedeln, beispielsweise im Steigbach. Jeannot Müller hält auch eine zweite Art: den Edelkrebs. «Früher war er als Arme-Leute-Essen verpönt, heute ist er eine Delikatesse», sagt er. Unter bestimmten Auflagen kann die Art kommerziell genutzt werden. Jeannot Müller betreibt vor allem den Handel und bedient im Spätsommer jeweils ein Dutzend Restaurants. Den Gewinn investiert er wieder in die Station. Denn seine Absicht ist einerseits, ein lokales Produkt als Alternative zum Hummer anzubieten, und andererseits, den Flusskrebs überhaupt wieder aus der Versenkung auftauchen zu lassen. (ic)

Regula Engeler und Jochen Heilek: «Sich mit der Geschichte auseinandersetzen»

Das «Haus Blume» an der Bahnhofstrasse 10 ist ein stattliches, städtisch wirkendes Anwesen aus der Zeit der Stickereiblüte. Der südlich gelegene Garten ist von einer Strasse durchschnitten und heute eine besondere Wildnis, Heimat für selten gewordene Spatzen. Das Haus ist nahezu im Originalzustand erhalten, repräsentiert aber nicht mehr Wohlstand, sondern Vergänglichkeit – eine Herausforderung und eine Freude für seine neuen Bewohner, das Künstlerpaar Regula Engeler und Jochen Heilek. Sie haben begonnen, sich mit der Geschichte des Hauses auseinanderzusetzen. So haben sie von älteren Leuten vernommen, dass hier einst Rationierungsmarken ausgegeben wurden. Sie wissen aber noch wenig über Architekt und frühere Besitzer. Noch heute sei bei vielen Details, etwa dem im Boden versenkten ehemaligen Bad, sichtbar, dass beim Bau sehr sorgfältig gearbeitet und entschieden wurde. Pflanzliches ist hier allgegenwärtig, in der grosszügigen Loggia auf der Ostseite überwintern Aloe Vera, Zitronenbäumchen und eine prächtige Kamelie. Regula Engeler arbeitet derzeit an einem Buch mit dem Titel «Unter Blumen». Ihre Fotografien passen zum «Haus Blume», denn auch sie haben Zeit und Vergänglichkeit zum Thema, bringen eine Sehnsucht nach Wildnis, Natur und Weite zum Ausdruck. Und Weite bietet das Haus mit den ehemals repräsentativen hohen Räumen seinen Bewohnerinnen und Bewohnern. Es könnte sein, dass die Lebensspanne des «Hauses Blume» sich dem Ende zuneigt – aber es durchlebt nochmals schöpferische Jahre. (sri)

Die Zeit ist um, der Appetit angeregt – nicht nur auf Bühler. Zum Abschluss der vielseitigen Annäherung an Bühler sitzen wir im «Sternen» zur Stärkung zusammen. Das Verarbeiten der Eindrücke beginnt. Der Blick gleitet über die Wiese mit zahlreichen Visieren. (ubs)

Texte: Ursula Badrutt, Isabelle Chappuis, Agathe Nisple, Kristin Schmidt, Hanspeter Spörri,  Andreas Stock; Fotos: Mäddel Fuchs

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