Ausgabe

DIEBINNEN UND ANDERE RÄUBER

No. 45 | 2023/1

«Obacht Kultur» N° 45, 2023/1 ist Diebinnen und Räubern auf der Spur.

Auftritt: Monika Rechsteiner;
Umschlag: Serafin Krieger;
Bildbogen: David Berweger;
Texte: Joachim B. Schmidt, Nicole Pfister Fetz, David Glanzmann und CHATGPT u.v.m.

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Frischluft

Das Zimmer

von Joachim B. Schmidt

Sie steht am Fenster und schaut in den noch dunklen Morgen. Der Fluss hat sich in Bewegung gesetzt, Hugrún hört das dumpfe Poltern der Eisschollen, das Schaben und Knirschen. Sie schlüpft in Overall und Gummistiefel, nimmt den Gehstock und tritt hinaus in den Spätwintermorgen. Das Wetter hat umgeschlagen, die Temperaturen sind mild, es regnet leicht. Der Schnee schmilzt, der Wasserpegel ist angestiegen und die Eisschicht stockend in Bewegung geraten. Auf der Koppel stehen zwei Pferde, stehen dicht beisammen, lassen die Köpfe hängen, als unterhielten sie sich murmelnd. Faxi!, ruft Hugrún und pfeift. Faxi! Die Pferde heben die Köpfe, schauen zu ihr rüber, Schatten nur. Zurück im Haus ruft Hugrún ihren Sohn an. Faxi sei verschwunden, sagt sie und muss es wiederholen, weil er noch schläfrig ist. Der Rote?, fragt er heiser. Ja, der rote Hengst, Faxi eben, einfach verschwunden. Natürlich, sie habe überall gesucht. Ihr Sohn verspricht, am Wochenende zu kommen und seufzt zum Abschied. Hugrún geht rastlos durchs Haus. Vor einer Zimmertür bleibt sie stehen, unentschlossen, bleibt lange stehen, lässt die Tür ungeöffnet. Sie geht in die Küche und setzt Kaffee auf, öffnet den Küchenschrank und erstarrt. Ihr Set ist verschwunden, die handverzierten Ober- und Untertassen aus Dänemark. Oder hat sie sie ihrem Sohn mitgegeben? Hugrún geht zurück zur Zimmertür, es war einst das Zimmer ihrer Schwester, legt die Hand auf die Klinke und verharrt. Schüttelt den Kopf, wendet sich ab. Erschöpft setzt sie sich in den Stubensessel und greift ins Leere. Der Korb mit den Stricksachen ist verschwunden. Jetzt fiebert sie durch das ganze Haus, ihre Vermutung bestätigt sich. Jemand hat den abgelegenen Hof geplündert. Es fehlen Kostbarkeiten, der Schmuck in ihrem Schlafzimmer, das Silberbesteck in der Kommode, das Kjarval-Gemälde über dem Küchentisch. Hugrún greift zum Hörer, aber dann fällt ihr auf, dass auch das Telefonbuch nicht mehr da ist, die Schneeschaufel neben dem Eingang, die Gummistiefel – alles weg! Je mehr sie sucht, desto mehr Dinge verschwinden. Sie öffnet die Haustür und steckt den Kopf nach draussen. Graues Licht hängt über den geduckten Bergen. Beim Nachbarshof auf der gegenüberliegenden Talseite brummt ein Traktor. Die Eisschollen ächzen, der Fluss kriecht Richtung Meer. Sie hört, wie etwas polternd zu Boden fällt, irgendwo im Haus. Es ist aus dem Zimmer ihrer Schwester gekommen. Wieder bleibt sie unentschlossen vor der Tür stehen. Lauscht. Sie hört Schritte. Frauenstimmen. Lachen. Hugrún schlägt mit flacher Hand an die Tür und ruft: Ruhe! Sei still! Du machst mir Angst! Die Stimmen verstummen. Hugrún erstarrt. Die Tür geht auf, eine weissgekleidete Frau erscheint. Hugrún stolpert rückwärts, fällt in ihr Bett und kriecht unter die Decke. Jæja, Hugrún mín, alles in Ordnung? Stört dich der Lärm der Baustelle da draussen? Damals auf eurem Bauernhof war es bestimmt ruhiger, nicht wahr? Hugrún nickt und seufzt. Nicht immer, sagt sie und schaut aus dem Fenster. Sie hört den Fluss, das dumpfe Poltern der Eisschollen, das Schaben und Knirschen.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, aufgewachsen als Bauernsohn am Heinzenberg, lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist und Reiseleiter auf der Vulkaninsel Island. Joachim B. Schmidts Roman «Kalmann» wurde mit einem Werkbeitrag von Pro Helvetia ausgezeichnet, und 2023 erhielt er für seinen Roman «Tell» den Bündner Literaturpreis.

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