Ausgabe

Geschenkt!

No. 34 | 2019/2

«Obacht Kultur» No. 34, 2019/2 dreht sich ums Schenken.

Auftritt: Fridolin Schoch. Bildbeitrag: Christina Waidelich. Texte: Usama Al Shahmani, Ueli Rickenbach u.v.m.

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Frischluft

Der Duft der Henna

von Usama Al Shamani

Wie eine Mutter, die sich über ihren Säugling beugt, sah ich meine Grossmutter einmal, als sie auf die Knie ging und sich um eine kleine Pflanze kümmerte. Es war ein Granatapfelbaum, den sie soeben in unserem Garten angepflanzt hatte. Ihr Gesicht strahlte Freude aus, während sie kleine Steine um den Setzling herum wegnahm. Sie hatte die Finger einer Bäuerin. Deren weiblich zarte Haut war unbedeckt. 

Ich beobachtete sie. «Braucht diese kleine Pflanze wirklich eine so grosse Aufmerksamkeit?», fragte ich meine Grossmutter verwundert. Ich, der ich damals wenig über zwanzig war. 

«Ja, nichts bereitet mir eine grössere Freude als die Erde und ihre Geschenke. Nur was sie uns schenkt, bleibt. Alles andere ist vergänglich. Betrachte die Natur, mein Junge, nicht mit deinen Augen, sondern mit deiner Seele. Du wirst die schönsten Bilder erkennen, denen du selber ähnlich bist. Jeder Mensch hat sein Bild in der Natur. Das ist sein kostbares Geschenk, das er suchen muss», antwortete sie, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Pflanze abzuwenden. 

«Und du, hast du dein Geschenk bekommen?», fragte ich sie weiter. 

«Aber sicher, mehrere Geschenke. Einige werden noch lange bleiben, auch wenn ich gehe», antwortete sie. 

«Wo soll die Suche beginnen?»

«Du musst zuerst in dir, in deinem Herzen anfangen», antwortete sie und legte ihre Hand auf ihr Herz.

Zwanzig Jahre sind vergangen, seit meine Grossmutter gestorben ist. Doch die Faszination ihrer Antwort besteht weiter und beschäftigt mich noch immer.

Den Granatapfelbaum sah ich auf meiner letzten Reise in den Irak im Juli 2017. Er schenkt immer wieder süsse, saftige Früchte. Seit dem Gespräch mit meiner Grossmutter habe ich nie aufgehört, die Natur durch meine Seele aufzunehmen. Bei jeder Begegnung mit der Natur freue ich mich über ihre grossen und auch kleinen Geschenke, die sie mir freigiebig schenkt.

Es begab sich einmal, dass ich am Ufer des Bodensees stand. Es war ein sonniger Sonntagnachmittag. Ich fing an, die Schwäne zu beobachten und über die Art, wie sie fliegen, zu meditieren. Das Wasser war kristallklar. Einige Blätter fielen von den hohen Bäumen herab und bewegten die Oberfläche ein wenig. Wie sie in das Blaue schwappten, erregte meine Aufmerksamkeit. Es war wie ein seltsamer Tanz. Mein Spiegelbild schien zerbrochen zu sein und meine Gesichtszüge verzerrten sich schnell. Eine andere Person erschien vor mir: eine Person mit schwarzen Haaren und glänzenden Augen hinter ihrer Brille. Sie sah mir aber gar nicht ähnlich.

Sie sagte zu mir: «Was ist los mit dir? Jetzt sollst du dein neues Geschenk annehmen und nicht mehr Angst haben. Das bist du, nachdem das Wasser alles Fremde von deiner Stirn gewaschen hat und nachdem die Bäume einen roten Kuss auf deine Wangen gemalt haben.»

Ich sagte nichts und ging fort. Unterwegs betastete ich meine Wange. An meiner Hand haftete ein Duft, der demjenigen glich, den ich in den Zöpfen meiner Grossmutter riechen konnte, als sie in Vorfreude auf das kommende Zuckerfest ihre Haare mit Henna färbte. «Danke», sagte ich leise und zog mit grossen Schritten weiter.

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen im Südirak, hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. 2002 musste er wegen eines regimekritischen Theaterstücks fliehen. Er lebt heute mit seiner Familie in Frauenfeld und arbeitet als Schriftsteller, Übersetzer und Kulturvermittler. «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» (Limmat Verlag) ist sein erster Roman, ausgezeichnet mit dem Terra-Nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Förderpreis der Stadt Frauenfeld. Im Mai 2019 wurde er mit einem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnet.

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