Ausgabe

Wege und Verbindungen

No. 43 | 2022/2

«Obacht Kultur» N° 43, 2022/2 ist auf dem Weg.

Auftritt: Emanuel Geisser;
Umschlag: Lük Popp;
Bildbogen: Harlis Schweizer-Hadjidj;
Texte: Sibylle Berg, Sandra Bühler und Christian Wagner, Florian Eugster u.v.m.

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Frischluft

Herz an Säntis

von Sibylle Berg

Ein Freitag im Oktober. Die Sonne leuchtet leise. Morgens war der Boden voller Tau, der jetzt verdunstet und die Luft feucht macht. Er packt die kleine Tasche – ein guter Whiskey, der meint nicht mehr, als elegant betrunken zu werden. Eine leichte Decke. Um darauf zu liegen, denn er will nicht mehr laufen, stehen, agieren – er hat es ordentlich durchgezogen, dieses Leben. Er hat versucht, es gut zu machen. Nicht zu betrügen, zu lügen, zu stehlen. Er hat freie Liebe probiert und feste Beziehung, arbeiten und es sein lassen. Er hat Frauen geliebt und Männer, als Frau gelebt, dann als Mann, und gemerkt, dass es egal ist, dass es die Welt nicht interessiert, wie man lebt, solange man es ordentlich tut, solange man den Anschluss nicht verliert. Er hat ein Instagram Account, hat seine Shitstorms verarbeitet, hat Stunden damit verbracht, Systeme upzudaten, neue Geräte gekauft, weil die alten sich nicht updaten liessen, Geräte programmiert, also zum Beispiel: Staubsauger und Fernseher. Hat noch mehr Stunden damit zugebracht, die Digitalisierung zu begrüssen, indem er Arbeiten, für die er früher meinte zu zahlen, selber erledigt hat. Tickets online bestellen, Fahrzeiten suchen, Zeug kaufen, Bewerbungsbögen ausfüllen, hochladen, runterladen, ups Systemcrash, 404. Er hat geflucht, den Rechner getreten, in Kunden-Hotlines gewartet, um dann mit einer Maschine zu reden, die nicht zuständig ist. Hat allen Gesetzen, die es dem Staat oder Privatunternehmen erlauben, seine Mails zu lesen, seine Telefonate abzuhören, wegen der Sicherheit, zugestimmt. Er hat seine Daten digitalisieren lassen. Da wurde ihm die Wohnung gekündigt, nach dreissig Jahren. Er beschwerte sich bei einer Hotline – und was verdammt nochmal sollte das für eine grossartige Zeit sein, in der man jeden Mist selber machen muss, den man nicht mehr verstand, weil es nichts zu verstehen gab, ausser dass er müde war. Er trug eine Uhr, die seine Schritte zählte, seinen Schlaf überwachte, seinen Alkoholkonsum. Er hatte einen Prozess verloren und war vorbestraft, weil er an eine Freundin von «Bombenwetter» geschrieben hatte. Seine Heizung schaltete sich im Winter automatisch bei 18 Grad aus. Dann eben kalt, dann eben ohne ihn. Das Zukunftsversprechen der digitalen tollen Welt bedeutete doch nur, dass er mit niemandem mehr reden konnte ausser mit Chatbots. Oder mit wütenden Menschen im Netz, die vielleicht Chatbots waren. Die Schwebebahn fährt, als wüsste sie um ihren Passagier, besonders langsam. Hier war er früher oft. Irgendwann, als er glaubte, unendlich zu sein. Damals hatte er den Platz entdeckt. Eine Anhöhe, der Blick ins Tal. Er findet die optimale Position. Und beginnt, sich zu betrinken. Er hat nicht darum gebeten, geboren worden zu sein, aber es war in Ordnung gewesen. Im Licht der Oktobersonne, den Kopf auf seiner Jacke, eine Decke um die Füsse, durch die goldenen Blätter in den Himmel zu sehen und zu sagen: Jetzt komme ich. Am Morgen schickt seine Versicherung ihm ein Herz. Die Polizei eine Verwarnung wegen unerlaubter Waldbenutzung. Die Sonne geht auf.

Sibylle Berg ist seit über zwanzig Jahren gefühlt und seit über zehn Jahren amtlich Schweizerin. Sie schreibt Bücher und Theaterstücke und erhielt für den Roman
«GRM» den Schweizer Literaturpreis. Ihr im Mai 2022 erschienenes Buch «RCE» ist eine Anleitung zur Revolution.

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